Dtsch Med Wochenschr 1952; 77(27/28): 867-870
DOI: 10.1055/s-0028-1117097
Therapie

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Über die Wandlung einiger infektiöser Krankheitsbilder unter der neuzeitlichen Therapie

K. Bingold, W. Trummert (Schluß1)
  • I. Medizinischen Klinik der Universität München (Direktor: Prof. Dr. K. Bingold)
1 Vgl. Dtsch. med. Wschr. 77 (1952), 26: 829.
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Publication Date:
23 April 2009 (online)

Zusammenfassung

1. Wir leben in einer Zeit, in der uns leicht der Vorwurf gemacht werden könnte, wir hätten eine Unterlassungssünde begangen, wenn einmal ein Krankheitsfall ungünstig ausgeht; dabei steht der praktische Arzt beim Versagen seiner Kunst noch viel mehr im Scheinwerferlicht der Laienkritik als der Arzt einer großen Krankenabteilung. Gerade deshalb, weil wir unter einem solchen Zwang stehen, bietet sich für unsere vernünftige Kritik in der Behandlung infektiöser Erkrankungen ein reiches Betätigungsfeld. Immer und immer wieder müssen wir unsere Erfahrungen einer Überprüfung unterziehen.

2. Im Rahmen unserer Darstellung machten wir den Versuch, an Hand einzelner ausgewählter Beispiele die heutige Problemstellung in der Klinik infektiöser Krankheiten zu umreißen und zum kritischen Nachdenken anzuregen. Es konnte dabei nicht unsere Aufgabe sein, auf Einzelheiten (etwa Fragen der Auswahl bestimmter Antibiotika oder Höhe und Dauer ihrer Dosierung) näher einzugehen. Die Literatur über solche Teilprobleme ist übergroß und hat mit ihrer Fülle eher dazu beigetragen, die Begriffe zu verwirren.

Auch die Frage der Erregerresistenz und der Reaktionslage des Organismus konnten wir in dem uns gesteckten Rahmen nicht näher erörtern. Dadurch wären wir aber keinesfalls zu anderen Schlußfolgerungen als den vorliegenden gekommen.

3. Wenn wir auch heute niemals mehr auf die wertvollen Waffen, welche uns seit der Eröffnung der antibiotischen Ära in die Hand gegeben wurden und sicherlich noch weiterhin in neuer Form zur Verfügung gestellt werden, verzichten möchten, so ist doch die Grundlage unseres therapeutischen Handelns die präzise Diagnostik und die sorgfältige Allgemeinbehandlung, vor allem die Unterstützung der Heilkraft der Natur und der Leistungsfähigkeit des Kreislaufs. Wir werden es in vielen Fällen der Kraft des Organismus überlassen können, mit den Infektionserregern fertig zu werden, und uns darauf beschränken, diesem optimale Voraussetzungen dazu zu schaffen und zu erhalten.

4. Es mehren sich nun die Stimmen, welche erklären, daß „selbstverständlich ein Antibiotikum nur wirksam sein kann, wenn es auch wirklich an den Infektionsherd herangebracht wird”. Hier beginnt die ärztliche Kunst in der Diagnostik und in der Wahl der Behandlungsmaßnahmen.

5. Aber es erheben sich auch die warnenden Stimmen aus aller Welt, welche da und dort Irrwege in der modernen Therapie aufzeigen; bald werden sie auch aus unseren Kliniken kommen. Wir sind weit entfernt, den Fortschritt zu leugnen, uns dem Vorwurf der Ketzerei oder auch nur der übertriebenen Kritik auszusetzen. Aber wir müssen auch den Mut haben, einzugestehen, daß da und dort ein Mittel nicht geholfen hat oder daß mit einem erreichten Fortschritt auch neue Gefahrenmomente verbunden sind. Wir müssen auch, wo es am Platze ist, zugeben, daß wir bei aller Bewunderung neu eröffneter Möglichkeiten einmal zuviel des Guten getan haben. Noch vor wenigen Jahren gehörte Mut dazu, in manchen Situationen sich auf die vis sanatrix naturae zu verlassen und nicht das gerade besonders proklamierte „Mittel der Wahl” anzuwenden, — teilweise ist dies auch heute noch der Fall.

Wir dürfen uns von den unbezweifelten Leistungen der modernen Heilkunde nicht blenden lassen: Die Grundlage für das „nil nocere” ist die stets und allenthalben notwendige Kritik.