Dtsch Med Wochenschr 1944; 70(23/24): 332-334
DOI: 10.1055/s-0028-1118927
Übersichten

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Über verschiedene Formen von Erschöpfungszuständen

(Ein Beitrag zum arbeitssoziologischen Problem)Gerd Voss Jr. † 
  • Neurologischen Abteilung des Augusta-Krankenhauses, Düsseldorf-Rath. Leitender Arzt: Dr. Gerd Voss Jr. †
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Publication Date:
02 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Unter Erschöpfung, einem höheren Grad der Ermüdung, verstehen wir einen komplexen Begriff, bei dem Peripherie und Zentrum, Erfolgsorgan und Gehirn, nicht voneinander getrennt werden dürfen. Auf neurologischem Gebiet sind objektiv faßbare Anzeichen derartiger Störungen die Reflexerschöpfbarkeit sowie die Erschöpfbarkeit der Muskelkraft bei spastischen Lähmungszuständen, extrapyramidalen Erkrankungen und der Myasthenie. Eine Erklärung für diese Vorgänge ist nicht möglich. Nach tierexperimentellen Versuchen scheint dem Sympathikus eine ermüdungsverzögernde Rolle zuzukommen. Stereotype Bewegungsanomalien im katatonen Stuporzustand zeigen, daß scheinbar rein geistige Erkrankungen mit einer Aufhebung der Ermüdbarkeit verknüpft sein können. Im Gegensatz dazu läßt der Tabiker, als rein körperlich Erkrankter, erkennen, daß selbst gröbste Störungen im Reflexablauf nicht mit einer gesteigerten Ermüdbarkeit verbunden zu sein brauchen. Es ist anzunehmen, daß für jeden Menschen strukturell vorbestimmte Leistungsgrenzen bestehen, innerhalb deren eine weitgehend festgelegte Koordination der einzelnen psychischen und physischen Faktoren untereinander angenommen werden muß. Der Nachweis bestimmt umrissener, immer wiederkehrender Erscheinungsformen der Erschöpfungszustände bei körperlich gleichartigen Ind viduen unterstützt diese Anschauung. Es werden drei grundsätzlich voneinander zu trennende Formen von Erschöpfungszuständen beschrieben: 1. der nervöse Erschöpfungszustand beim Astheniker, auf dystoner Grundlage, 2. der hypochondrische oder depressive oder einfache Erschöpfungszustand beim Pykniker auf syntoner Basis, 3. der chronische Versagenszustand bei besonders klar zu erkennender dispositioneller Verankerung. Abgesehen von dem klinischen Bild unterscheiden sich diese Formen vor allem hinsichtlich ihrer Prognose. Für arbeitssoziologische Fragestellungen ist es deshalb wichtig zu wissen, daß der Erschöpfungszustand des pyknisch gebauten Sthenikers wesentlich günstigere Wiederherstellungsaussichten bietet als der gleiche Zustand beim Astheniker. Insbesondere muß der chronische Versagenszustand klar erkannt werden und wegen seiner absolut ungünstigen Prognose aus der Reihe der Anwärter auf wiederholte Heilverfahren, Erholungsaufenthalte usw. ausscheiden. Eine dementsprechende Bewertung ist auch für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, des Arbeitsplatzwechsels, der Arbeitszeitverkürzung u. a. zugrunde zu legen. Unter den symptomatischen Erschöpfungszuständen ist auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet vor allem auf die Paralyse und bei Jugendlichen auf die beginnende Schizophrenie und die multiple Sklerose zu achten. Therapeutisch wird die Anwendung des Pervitins ledigl ch zur Erzielung einer einmaligen Überleistung für berechtigt gehalten.