Gesundheitswesen 2009; 71(1): 54-55
DOI: 10.1055/s-0028-1119365
Kommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Besser vernetzt

Better NetworkM. Wildner
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. Januar 2009 (online)

Ein wissenschaftliches Netzwerk, im Konkreten das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF), sucht eine weitere Vernetzung mit einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift zur Wahrnehmung gegenseitiger Interessen im besten Einvernehmen [1]. Dies ist willkommener Anlass, sich mit den Bezeichnungen „Netz” und „Netzwerk” weiter auseinander zu setzen. „Netzwerk” ist eine Leitmetapher unserer Zeit, welche im Besonderen durch die technologischen Entwicklungen bei Rechnern und Kommunikationssystemen befördert scheint. Technologische Repräsentationen davon sind vernetzte Rechner zur massiven Erhöhung von Rechenkapazitäten, lokale Kommunikationsnetzwerke im Büro (local area network, LAN, wireless-LAN und die Spielform „LAN Partys”), erweiterte Kommunikationsnetze (wide area networks, WAN) und natürlich das inzwischen schon vertraut erscheinende Internet – das weltweit umspannende Netzwerk.

Das Internet, ursprünglich ein Projekt des US-amerikanischen Militärs, wurde am 30. April 1993 zur allgemeinen Nutzung freigegeben. Tim Berners-Lee entwickelte 1989 am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf das zugehörige komfortable Hypertextsystem „WorldWideWeb (www)”. Damit bekam das Internet seine Postbeförderungsregeln (Hypertext Transfer Protocol, HTTP), sein Textverarbeitungssystem (Hypertext Markup Language, HTML) und seine Briefkästen (Uniform Resource Locator, URL) – und richtig, keine Briefmarken! Inzwischen hat das Internet eine überwiegend zivile Nutzung und dort durch seine praktischen Eigenschaften – u. a. keine Briefmarken – eine überragende Stellung eingenommen. Bits und Bytes als rechnerische Grundelemente des Internets: Gilt für das 21. Jahrhundert ein „Alles ist Zahl” der Schule des Pythagoras von Samos (6. Jahrhundert v. Chr.)? War wieder einmal ein (kalter) „Krieg Vater aller Dinge” (Heraklit von Ephesos, 535-483 v. Chr.)?

Die mit der globalen Vernetzung verbundenen Revolutionen haben ihren Ausgang neben dem militärischen Bereich vor allem in der Wissenschaft genommen. Veränderte Kommunikationsgewohnheiten und -geschwindigkeiten insbesondere durch die „elektronische Post” (E-Mail) sind dabei nur eine Seite der angestoßenen Veränderungen. Ihre Auswirkungen auf die nicht-wissenschaftliche zivile Lebensgestaltung und insbesondere die Wirtschaft hat der amerikanische Journalist Thomas Friedman in einer hellsichtigen Analyse vorgestellt: The world is flat – A brief history of the globalized world in the twenty-first century (dt. Die Welt ist flach – eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts) [2]. Von fallenden Wirtschaftsschranken ist dort die Rede und der vom „.com-boom” (sprich: „dot-com-boom”) beförderten Vernetzung der Kontinente mit Breitbandkabeln. Vom „.com-blast”, also dem Platzen der Internet-Spekulationsblase und dadurch weltweit fallenden Kommunikationskosten. Von den sich erstmals an der Weltwirtschaft beteiligenden gigantischen Ökonomien in Asien, Osteuropa und Lateinamerika, von Heimarbeitsplätzen, Outsourcing, Offshoring, globalem Supply Chaining.

Die weltweite und die Zivilisationen im alltäglichen Leben durchdringende Vernetzung beschert uns mit hoher Bitgeschwindigkeit schwindelerregende Erweiterungen unserer Umgangssprache. Beispiele dafür wurden im bisherigen Text schon reichlich gegeben. Und vorsichtshalber wurden zumeist die Bezeichnungen jeweils auch in ihrer Bedeutung erläutert: Denn die globalisierte sprachliche Erweiterungeilt nicht selten der persönlichen gedanklichen wie auch der gemeinschaftlichen kulturellen Verarbeitung voraus. Die schlimmen Folgen einer so beförderten, unterschwelligen globalen Sprachverwirrung hat der Kapitalmarkt vor Augen geführt. Zuerst eine Euphorie, beflügelt von den neuen Produkten des Finanzmarktes. Produkten? Vielleicht sollte man sagen „Zauberwörtern”, denn in der Sache waren die an der Kommunikation über Swaps, Spread-Ladder-Swaps, Cross-Border-Leasing und „Plain Vanilla” – Deals Beteiligten wohl weniger bewandert [3]. Dann der globale „blinde Vertrauensverlust” nach der vorangegangenen blinden Vertrauensseligkeit hinsichtlich der ökonomisierten globalen Heilsversprechen. Sprachverwirrung bleibt eben nicht bei Sprachverwirrung stehen: Sprache ist auch Denkwerkzeug, ist auch Probehandeln und kann insbesondere in Schriftform zur rechtlich bindenden und unerbittlichen Wirklichkeit werden.

Sind Netzwerke überhaupt „gut”? Vielleicht sollte man Friedmanns im deutschen Sprachraum doppeldeutige Metapher von der „flachen Welt” (gemeint ist eine Welt ohne Barrieren) nicht ohne weiteres übernehmen. Die Welt sollte ja durch die Vernetzung und die damit ermöglichte Informationsrevolution nicht „verflachen”, sondern im Gegenteil an kultureller Tiefe, zivilisatorischer Höhe und gedanklicher Weite gewinnen. Im Allgemeinen dürfte der vielfältige Nutzen einer weltweiten Vernetzung überwiegen. Wirtschaftlich durch weltweite Handelsbeziehungen unter Nutzung von Standortvorteilen. Politisch besteht die Hoffnung, dass Kriege in Folge der vielfältigen Vernetzungen weniger wahrscheinlich werden. Wissen wird demokratisch verfügbar, Transparenz erhöht sich, die damit verbundene Hoffnung auf steigende Qualität und Wirtschaftlichkeit auch im Gesundheitswesen ist grundsätzlich begründet. Dies deckt sich im Übrigen auch mit den Zielsetzungen wissenschaftlicher Kongresse, Netzwerke und Fachzeitschriften.

Die Metapher des „Netzes” ist ja älter als das Internet. Man darf sich auf die „Metapher hinter der Metapher” besinnen: Auf das altbekannte Fischernetz, welches ausgeworfen wird und durch den Fang menschliches Leben möglich macht. Auf das Netzwerk unter Freunden und Berufskollegen, auf das weitgefasstere soziale Netz, welches traditionell Bestandteil nicht nur der Existenzsicherung, sondern auch eines erfüllten Lebens ist. Auf das erfolgreiche deutsche Modell existentieller Absicherung durch ein ausgestaltetes Sozialversicherungsnetz. Vielleicht kann auch, etwas futuristischer, eine Verbindung zur „Noosphäre” eines Teilhard de Chardin geknüpft werden: Als einem feinen Netz an geistiger Aktivität in Form von Worten und Zahlen, Gedanken und Theorien, einer geistigen Sphäre, welche die Erde umgibt wie die Atmosphäre. Ein reflexiver Blick des Menschen aus dem Weltall auf seinen Planeten: Die vielfältig vernetzte Erde als Ikone des 21. Jahrhunderts [4]?

Zwei sicher nicht abschließende Gedanken aus einer solchen Reflexion. Zum einen der Gedanke von Vernetzung als einer natürlichen Eigenschaft des Lebens, einer Grundkonstante des Lebens. „Besser vernetzt!” in dem Sinn, dass es im Leben besser ist, vernetzt zu sein, als nicht vernetzt zu sein. Und gleichzeitig auch ein Nachdenken über die Qualität unserer Vernetzungen, damit aus ihnen keine „Verknotungen” oder „Spinnennetze” werden, welchen die Privatsphäre oder wichtige andere Freiheiten zum Opfer fallen: „Besser vernetzt!” als Aufruf zur Sorge um und Mitarbeit an dieser Netzwerk-Qualität. Wie das möglich ist? Natürliche Systeme wie auch menschengemachte Systeme benötigen Regeln, Reziprozität und Resonanzmöglichkeiten für eine nachhaltig vertrauensvolle Kommunikation jenseits einfacher „Netiquette”. Die Sicherstellung dieser Elemente ist eine Aufgabe nicht (nur) für einen einzelnen Menschen, sondern für eine ganze, erstmalig weltweit vernetzte Generation und ihre schon bestehenden Netze: die Kulturen und Zivilisationen.

Literatur

  • 1 Wildner M, Pfaff H, Gostomzyk J. Editorial.  Gesundheitswesen. 2009;  71 1-2
  • 2 Friedman TL. The world is flat – A Brief History of the Globalized World in the Twenty-First Century. Penguin Books, New York 2007 (Dt: Die Welt ist flach – eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts. Suhrkamp, München 2008)
  • 3 Bartsch M, Kleinhubbert G, Wassermann A. Finanzkrise: Geschäfte mit den Caymans. Der Spiegel 2008: 42 http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,583559,00.html (Zugriff 09.12.2008)
  • 4 Treml HL. Religion in the Third Millenium: Earth as Icon. In: Kotchen D, Hrsg. Vision – Harvard Students look ahead. Dipylon Press, Cambridge (MA) 1995: 137-150

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

eMail: manfred.wildner@lg.bayern.de

    >