Dtsch Med Wochenschr 1954; 79(52): 1930-1934
DOI: 10.1055/s-0028-1120003
Klinik und Forschung

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Entstehung der postvakzinalen Enzephalitis

Klinisch-serologischer BeitragW. Kosenow, H. G. Haussmann
  • Kinderklinik der Universität Münster/Westf. (Direktor: Prof. Dr. Dr. H. Mai) und aus dem Hygien. Institut der Stadt und Univ. Frankfurt/Main (Direktor: Prof. Dr. med. H. Schlossberger)
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Publication Date:
03 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Das Problem der Entstehungsweise postvakzinaler Enzephalitiden ist nach wie vor sehr aktuell. Während ihre Pathogenese von verschiedener Seite so gedeutet wird daß es sich um eine allergische, durch die Impfung bzw. das Vakzinevirus selbst ausgelöste Reaktion handelt, haben sich für die weitergehende Vermutung, daß hier noch andere ursächliche Faktoren hineinspielen und zum Zustandekommen der neuralen Erkrankung notwendige Voraussetzung sind, bisher wenig greifbare Anhaltspunkte finden lassen.

Ein in dieser Beziehung aufschlußreicher Krankheitsfall, dessen klinischer Verlauf im einzelnen besprochen wird, erfährt auf Grund seiner interessanten serologischen Ergebnisse folgende Beurteilung:

Eine am 27.4. 1953 erstmalig gegen Pocken schutzgeimpfte 11œjährige Patientin hat zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt Ende April oder Anfang Mai des gleichen Jahres eine Influenza-A1-Virus-Infektion erlitten, die in einer Antikörperbildung gegenüber dem A1-Stamm FM 1 zum Ausdruck kam. Am 5. 5. 1953 ist sie — 8 Tage nach der Pockenschutzimpfung — mit einer schweren Fieberreaktion erkrankt, die sowohl als fieberhafte Impfreaktion als auch als manifeste Influenza gedeutet werden kann und deren wirkliche Ursache infolgedessen nicht endgültig bestimmbar ist. 14 Tage nach der Schutzimpfung — 6 Tage nach der Fiebererkrankung — tritt eine schwere Meningoenzephalomyelitis auf, die nach einem vorübergehenden Zustand akuter Lebensbedrohung in Heilung übergeht.

Diese zerebrale Komplikation kann ebensogut als typische postvakzinale Enzephalitis wie als postinfektiöse Influenza-Enzephalitis aufgefaßt werden. Beide Virusinfektionen könnten sich in der Weise gegenseitig beeinflußt haben, daß jeweils die hinzugetretene auf die schon vorhandene verschlimmernd bzw. krankmachend eingewirkt hat.

Andererseits wäre aber auch denkbar, daß eine postvakzinale Enzephalitis vorgelegen hat, bei der in diesem besonderen Fall mit serologischer Methodik zufällig einer jener Faktoren aufgedeckt wurde, die in der Regel neben dem Vakzine-Virus und vielleicht auch neben einer neuroallergischen Reaktionsbereitschaft vorhanden sein müssen, wenn dieses Krankheitsbild überhaupt zustande kommen soll. Daß es sich dabei zutreffendenfalls jedoch nicht immer um Influenza-Virus zu handeln braucht, wird aus dem negativen Ausfall der gleichen Komplementbindungsreaktion bei einem anderen, ungefähr gleichzeitig beobachteten, klinisch ähnlich verlaufenen Krankheitsfall gefolgert.

Gleich welcher Deutung man den Vorzug zu geben geneigt ist: die Tatsache, daß bei der Krankheitsentstehung letzten Endes der Vakzinationsprozeß den auslösenden Anstoß gibt, wird durch solche Überlegungen nicht entkräftet. Seine unmittelbare Wirksamkeit steht außer Zweifel und läßt den Namen „Postvakzinale Enzephalitis” auch dann berechtigt erscheinen, wenn man im Einzelfall die oben genannten Faktoren als gleichfalls wesentlich zu diskutieren bereit ist.