Dtsch Med Wochenschr 1919; 45(21): 561-566
DOI: 10.1055/s-0028-1137756
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Psychisch vermittelte Einwirkungen als Ursachen psychischer Erkrankungen.1)

Martin Reichardt
  • Aus der Psychiatrischen Klinik der Universität in Würzburg
1) Aus einem Vortrag, gehalten in der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft in Würzburg am 12. Dezember 1918. Die Erörterung über das obige Thema bildet eine Fortsetzung meiner bisherigen Untersuchungen; vgl. Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik in Würzburg H. 6—8 (Jena, 1911—1914); neuerdings auch meine Theorie über die Psyche. Journ. f. Neurol. u. Psychologie 1918 H. 5 u. 6 S. 168. Die ausführliche Veröffentlichung soll an anderer Stelle erfolgen.
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. Juli 2009 (online)

Zusammenfassung

Die ursächliche Rolle der psychisch vermittelten Außenwelt bei geistigen Erkrankungen ist sehr gering. Die Psychosen der Psychiatrie haben im allgemeinen keine psychischen Ursachen. Psychische Einwirkungen im Sinne von Schreckemotion usw. wirken im allgemeinen nicht in länger dauernder Weise krankmachend. Eine Sonderstellung nehmen die sogenannten psychogenen Krankheiten ein; d. h. die pathologischen psychischen Reaktionen auf bestimmte psychisch vermittelte Einwirkungen. Sie sind nichts anderes als Symptome der psychopathischen Veranlagung. Es ist vielleicht auch zweckmäßig, den Ausdruck „Krankheiten” (namentlich „Geisteskrankheit”, „Psychose”) bei ihnen möglichst einzuschränken öder (vor allem bei den hysterischen Reaktionen und verwandten Erscheinungen) möglichst zu vermeiden, dafür lieber die allgemeinere Bezeichnung des „psychischen Ausnahmezustandes” einzuführen. Es wirkt zweifellos verwirrend, wenn man ebensowohl einen harmlosen hysterischen Zustand wie auch eine schwere endogene oder organische Psychose „Geisteskrankheit” nennt. Je mehr die Außenwelt wirklich Einfluß auf die Psyche hat (nicht nur den Gedankeninhalt liefert oder die Gedankenrichtung beeinflußt), um so normaler ist der Geisteszustand, oder er nähert sich wenigstens der normalen geistigen Verfassung. So sind auch die eigentlichen „psychogenen Krankheiten” grundsätzlich nichts anderes als pathologische Uebertreibungen normaler (bzw. individueller) seelischer Reaktionen. Das wirklich Reaktive stellt also stets den leichteren, der Normalpsychologie nahestehenden Zustand dar. Dies ist wiederum von großer praktischer Wichtigkeit, da der Arzt nur mit einer solchen Ueberzeugung energisch und sachgemäß psychotherapeutisch vorgehen kann. Das psychogen Entstandene ist auch durch psychische Beeinflussung wieder zu beseitigen. Was cessante causa durch psychische Behandlung nicht weicht, dies hat keinen psychogenen Ursprung mehr. Zu einer geeigneten psychischen Behandlung gehört in erster Linie die Aufklärung, d. h. der Hinweis, daß die psychisch verursachte Störung harmlos ist und nichts Schlimmes zu bedeuten hat. Dies ist namentlich den hypochondrisch oder hysterisch veranlagten Unfallkranken von Anfang an zu versichern. Die Verkennung psychogener Ausnahmezustände (Reaktionen) ist ein ebenso schwerer Fehler wie die ursächliche Ueberschätzung psychischer Einwirkungen bei allen nichtpsychogenen Krankheiten. Die psychogenen Reaktionen sind von den eigentlichen Geisteskrankheiten grundsätzlich zu trennen. Zweifellos ist die psychogene Entstehung mancher psychopathischer Zustände früher nicht genügend berücksichtigt worden. Aber anderseits darf man auch nicht in den gegenteiligen Fehler verfallen, zu viele psychische Krankheiten als „psychogen entstanden” aufzufassen. Der Krieg hat vor allem auch die außerordentliche Widerstandsfähigkeit des Gehirnes und Seelenlebens gegen psychisch vermittelte Einwirkungen und die geringe ursächliche Rolle der letzteren für die eigentlichen und schweren geistigen Erkrankungen gezeigt.