Zahnmedizin up2date 2009; 3(1): 3
DOI: 10.1055/s-0029-1185284
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Entwicklungen, Weiterentwicklungen, Praxisreife

Gerhard Wahl
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Publication Date:
16 February 2009 (online)

Die rasante Entwicklung von Materialien und technischen Möglichkeiten bringt ungeahnte Veränderungen und führt auch in der Zahnmedizin zu immer schnelleren Neuerungen, die dem Wohle des Patienten dienen sollen, um Krankheiten zu heilen, entstandene Defizite auszugleichen, die natürlichen Verhältnisse weitgehend wieder herzustellen oder zu optimieren. Dass insbesondere diese Herstellung von „Natürlichkeit“ einen hohen Stellenwert besitzt, zeigt eine Umfrage aus dem Jahre 2006, bei der die attraktiven Merkmale eines Menschen beurteilt werden sollten. 43,5 % der Befragten gaben an, dass sie die Attraktivität eines Menschen nach „gepflegten Zähnen“ beurteilen und erst deutlich dahinter wurden mit 27,5 % der Befragten die Augen als attraktivstes Merkmal eines Menschen charakterisiert.

Neben den Fortschritten im Materialbereich und im technischen Equipment lernen wir aber auch die biologischen Gegebenheiten immer besser zu verstehen, sodass die Zahnmedizin zunehmend wieder als Bestandteil und Fachdisziplin der Medizin verstanden wird. Auch die „sprechende Medizin“ hält wieder Einzug in die Zahnarztpraxis und eruiert nicht nur die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten, sondern führt zu einem besseren Verständnis geklagter Beschwerden, wodurch wiederum eine gezieltere Diagnostik und letztlich eine adäquate Therapieform ausgewählt werden kann. Dieses Sprechen beinhaltet auch die umfassende Information des Patienten, die Aufklärung über Diagnose und Therapie, Behandlungsalternativen einschließlich der hierin enthaltenen Risiken und letztlich natürlich auch die Unterlassungsaufklärung, wenn der Patient den Empfehlungen nicht zustimmen möchte.

Betrachtet man den Bereich der Risikoaufklärung, so fällt diese – bei den immer schneller auf den Markt gebrachten Medizinprodukten und zum Teil auch Arzneimitteln – immer schwerer. Zwar wird der Standard stetig optimiert, doch Risiken bleiben letztlich unvermeidlich. Ein wesentlicher Punkt ist hier die Langzeiterfahrung, der sich sowohl Materialien als auch Therapieverfahren stellen müssen, um sie als „bewährt“ bezeichnen zu können. Ungeklärt ist dabei die Frage, nach welchem Zeitraum man von einer „Langzeitbewährung“ sprechen kann. In Zeiten der schnellen Produktentwicklung fällt es nicht leicht, Daten über Langzeitergebnisse zu erhalten, da die Wissenschaft nach Fortschritt strebt, der Behandler seinem Patienten die modernsten Behandlungsverfahren anbieten möchte und natürlich auch die Patienten für sich gerne neueste Materialien und Methoden in Anspruch nehmen möchten.

So liegen z. B. in der Implantologie Langzeitdaten von Systemen vor, die heute in Form und Oberflächenbeschaffenheit nicht mehr auf dem Markt angeboten werden. Letztlich sind dies aber die einzigen Daten, die tatsächlich Langzeitergebnisse repräsentieren. Sicherlich würden nicht nur Patienten, sondern auch Versicherungsträger diese alten Materialien und Methoden ablehnen, obwohl es gerade dafür Langzeiterfahrungen gibt. Andererseits wird diese Langzeiterfahrung über die Zeit von der Solidargemeinschaft finanziert, da sich die klinische Bewährung eben erst in der Langzeitanwendung und ‐beobachtung zeigt. Wenn aber ein Produkt sich durch präklinische und klinische Studien als sicher, leistungsfähig und gesundheitlich unbedenklich erwiesen hat und als Medizinprodukt zugelassen ist, darf dieses beim Patienten eingesetzt werden, obwohl noch keine Langzeitdaten vorliegen.

Letztlich bietet also jede Neuentwicklung eine Chance, befreit aber nicht von Risiken, selbst wenn noch so umfangreiche präklinische und klinische Studien vor einer Markteinführung stattgefunden haben. Auch eine CE‐Zertifizierung bietet hier keine ausreichende Anwendungssicherheit. Eindrucksvoll und nachdenklich stimmend belegt dies zum Beispiel im Arzneimittelbereich das Analgetikum Rofecoxib, welches als potenzielles Analgetikum und selektiver Cox-2-Inhibitor viele Nebenwirkungen der nicht selektiven Analgetika ausschließen konnte, andererseits aber leider zu Todesfällen führte, sodass es im September 2004 vom Markt genommen wurde.

Als Synopse bleibt festzuhalten, dass jede Weiterentwicklung an einer Optimierung in Qualität und Sicherheit der Anwendung ausgerichtet ist, die Bewährung sich aber erst über die Zeit verdeutlicht und „Praxisreife“ immer wieder zu hinterfragen ist. Unter diesem Aspekt sollte nicht vergessen werden, dass neben prospektiven, randomisierten klinischen Kontrollstudien auch exakte retrospektive Analysen über einen längeren Zeitraum einen großen Wert haben, selbst wenn sie nicht den höchsten Evidenzlevel darstellen. Für die Entscheidung am Behandlungsstuhl und als Information an den Patienten sind sie ausgesprochen wertvoll.

Prof. Dr. med. dent. Gerhard Wahl
Direktor der Poliklinik für Chirurgische Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität Bonn
Mitherausgeber der Zahnmedizin up2date