Via medici 2009; 14(1): 7
DOI: 10.1055/s-0029-1202162

Hätten Sie’s gewusst? – ADHS: Krankheit oder Modetrend?

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Publication Date:
23 January 2009 (online)

Etwa vier Prozent der deutschen Kinder leiden am „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom” (ADHS). Gibt es diese Krankheit tatsächlich? Oder ist sie nur ein kulturelles Phänomen? Wir fragten Marianne Leuzinger-Bohleber, Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Uni Kassel und Expertin für Entwicklungspsychologie.

Was halten Sie von der These, dass das ADHS eher eine umweltbedingte Verhaltensauffälligkeit ist, der nur Interessengruppen zuliebe das „Image” einer Krankheit verliehen wurde?

Prof. Leuzinger-B.: Die Tatsache, dass die Diagnose ADHS in den letzten Jahren derart zugenommen hat, wirft in der Tat unbequeme Fragen auf: Gibt es in unserer Gesellschaft ein Bedürfnis, „zappelige Kinder” rasch und effizient mit Medikamenten ruhig zu stellen? Ist nicht eine Hauptursache dieser Beschwerden, dass wir die Bewegungsräume unserer Kinder stark eingeschränkt haben und nun von ihnen eine Anpassungsleistung verlangen, die ihrem Entwicklungsstand nicht angemessen ist? Sicher gibt es eine kleine Gruppe von Kindern, die eine Störung in ihrem Transmittersystem aufweisen. Bei ihnen können Medikamente unter Umständen hilfreich sein. Aber auch bei diesen Kindern dürfen Tabletten nie dazu führen, dass auf psychotherapeutische und pädagogische Hilfe verzichtet wird.

Wo zieht man bei ADHS die Grenze zwischen krank und gesund?

Prof. Leuzinger-B.: Die beiden Klassifikationssysteme DSM 4 und ICD 10 geben genau vor, welche Verhaltensweisen bei ADHS vorliegen müssen. Um das alles zu testen, braucht ein Kinderarzt etwa fünf Stunden. Sehr oft wird die Diagnose aber von Nichtspezialisten gestellt, die sich zu wenig Zeit nehmen. Zudem geben selbst Fachleute zu, dass die Grenze zwischen „temperamentvoll” und „hyperaktiv” unscharf ist. Ein Junge, der in Norddeutschland als auffällig gilt, wäre in Süditalien eher ein relativ ruhiger Junge. Auch die Wahrnehmung von Lehrern spielt eine Rolle. Manche können mit aktiven Kindern gut umgehen, andere fühlen sich schnell gestört.

In den USA wird über sechs Millionen Kindern Ritalin verabreicht. Wie gefährlich ist dieses Medikament?

Prof. Leuzinger-B.: Durch die Verordnung erhält das Kind die Botschaft, dass es nicht gesund ist. Das ist für sein Selbstkonzept ein massiver Eingriff. Es definiert sich dann nicht mehr als temperamentvoll, sondern als krank. Zudem weiß man noch wenig über die Langzeitwirkungen: Man diskutiert, ob Ritalinkonsumenten – auch aufgrund psychologischer Faktoren – später eher süchtig werden. Außerdem könnte das Ritalin dem Gehirn die Fähigkeit nehmen, kompensatorische Kontrollfunktionen einzuüben. Deswegen ist es wichtig, auch nichtmedikamentöse Ansätze zu nutzen: In einer Psychotherapie kann ein Kind lernen, mit Hyperaktivität umzugehen.

Gibt es ADHS eigentlich auch bei Naturvölkern?

In Afrika, wo Kinder in einem lockeren Verband mit vielen anderen Kindern aufwachsen, ist die Diagnose unbekannt. Auch wir hier in Europa kennen den „Zappelphilipp” erst seit die Kinder in die Schule gehen müssen. So gesehen ist ADHS tatsächlich ein kulturelles Phänomen.

Das komplette Interview mit Prof. Leuzinger-Bohleber lesen Sie unter www.thieme.de/viamedici/medizin/krankheiten/adhs.html. Grübeln Sie auch über einer Frage, auf die Sie keine Antwort finden? Schicken Sie uns Ihre Frage an: via.medici@thieme.de