Psychiatr Prax 2009; 36(5): 208-210
DOI: 10.1055/s-0029-1220344
Debatte: Pro & Contra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Differenzierung pflegerischer Aufgaben in der Psychiatrie durch neue Berufsbilder und Zusatzausbildungen

Differentiation of Nursing Tasks in Psychiatric Wards through New Professions and Additional TrainingPro: Kai  G.  Kahl, Stefan-M.  Bartusch, Martin  Greetfeld Kontra: Michael  Schulz
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Publication Date:
02 July 2009 (online)

Pro

Das Gesundheitswesen ist wegen der zunehmenden Unterfinanzierung der Sozialversicherungen unter erheblichen Effizienzdruck geraten. Folgen dieser Entwicklung sind auf einer übergeordneten Ebene u. a. die Deregulierung und Ökonomisierung der sozialen Sicherungssysteme, der Trend zur Privatisierung von Krankenhäusern und der Versuch, medizinische Leistungen bundeseinheitlich qualitativ und ökonomisch vergleichbar zu machen. Speziell die Einführung der DRGs hat in den somatischen Fächern zu einer Spezialisierung und überregionalen Zentrenbildung geführt, die geradezu gegenläufig ist zu dem Anspruch einer gemeindenahen, umfassenden Versorgung psychisch Kranker.

Auf der Mitarbeiterebene belastet die Verdichtung der Arbeitsabläufe bei gleichzeitiger Pflicht zur Einhaltung leitliniengerechter Therapie das berufliche und persönliche Selbstverständnis der Akteure. Die Arbeit am Patienten – Kernstück der „sprechenden Medizin” – kommt daher in unserem Fachgebiet häufig zu kurz. Es wäre allerdings einseitig, die Versorgungsprobleme in psychiatrischen und psychotherapeutischen Krankenhäusern ausschließlich als Folgen einer zunehmenden Ökonomisierung darzustellen. Viele „Zeitfresser” im psychiatrisch-psychotherapeutischen Alltag sind auf Probleme in der Aufgaben- und Prozessorganisation zurückzuführen. Einer (von mehreren) Auswegen aus dieser Situation könnte in der Differenzierung pflegerischer Aufgaben in der Psychiatrie liegen, beispielsweise durch die Einführung eines neuen Berufsbildes im Rahmen einer Zusatzqualifikation.

Die umfassende Behandlung psychisch Kranker erfordert einen verhältnismäßig hohen Aufwand an Personal aus unterschiedlichen Berufsgruppen. In der Regel müssen multiprofessionelle Teams zusammenarbeiten, um unterschiedliche Ebenen von Krankheitsfaktoren zu behandeln. Im Idealfall ergibt sich eine Therapie entlang des „biopsychosozialen” Krankheitsmodells, in der die biologischen, psychologischen und sozialen Einflussgrößen auf das Krankheitsgeschehen beeinflusst werden [1].

In der Praxis sind das Ausrichten des therapeutischen Handelns nach dem „biopsychosozialen” Behandlungsmodell und das dazu nötige „multiprofessionelle Team” häufig ein schwer zu erreichendes Ideal. Hierfür gibt es viele Gründe: Die unterschiedlichen Berufsgruppen haben in der Behandlung psychisch Kranker unterschiedliche Behandlungsziele, die sich nicht immer ergänzen. So sind beispielsweise die Pflegeprozesse an den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) ausgerichtet, ärztliche Prozesse beispielsweise an der Optimierung einer Psychopharmakotherapie, die psychotherapeutischen Prozesse schulenabhängig unterschiedlich.

Neben der häufig mangelnden berufsgruppenübergreifenden Verzahnung therapeutischer Maßnahmen sind die Ursachen für das „nicht professionelle Miteinander” vielschichtig: mangelnde Standardisierung von Diagnostik und Therapie, unpassende räumliche Voraussetzungen, unzureichende Absprachen, unklare Tätigkeitsprofile und eine mangelnde Rechtssicherheit in Bezug auf das Berufs- und Dienstrecht (u. a. der „Arztvorbehalt”) [2]. Dies führt zu Situationen, in denen auch motivierte Mitarbeiter die Orientierung verlieren und sich notwendigen therapeutischen und ökonomischen Anpassungsprozessen entziehen. Darüber hinaus ist unter diesen Umständen die Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie erschwert.

Ein Lösungsvorschlag: Übertragung therapeutischer Aufgaben durch eine qualifizierte Zusatzausbildung

Ein wesentlicher Aspekt der therapeutischen Arbeit liegt darin, den Patienten zum „Experten in eigener Sache” zu machen. Das umfassende Wissen um die eigene Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten fördert die Bereitschaft, gemeinsam erarbeitete Therapievorschläge langfristig einzuhalten. Die Einhaltung therapeutischer Empfehlungen auch nach Abklingen der akuten Symptomatik ist abhängig von der Akzeptanz durch die Patienten, die durch psychoedukative Gruppen- und Angehörigenarbeit verbessert werden kann.

In der Praxis stößt die Einführung von Angehörigengruppen und psychoedukativen Gruppen häufig an personelle, inhaltliche und rechtliche Grenzen. Diese Situation ließe sich durch eine Differenzierung pflegerischer Tätigkeit verbessern, indem die pflegerischen Aufgaben in qualifizierte Fachpflege, psychiatrische Grundpflege und Basispflege sowie pflegeferne Aufgabenbereiche eingeteilt werden. Die Fachpflege hat in diesem Modell die Aufgabe, psychoedukative und soziotherapeutische Gruppenangebote sowie Angehörigengruppen eigenverantwortlich unter Supervision durchzuführen. Zudem unterstützt der / die Fachpfleger / -in Patienten und Patientinnen* bei der Durchführung spezieller Trainings und Einübung neuer Fertigkeiten (z. B. Skillstraining zur Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitstörung).

Zu den Aufgaben der psychiatrischen Grundpflege gehören alle patientennahen und stationsbezogenen Tätigkeiten von der Aufnahme bis zur Entlassung, mancherorts unterstützt durch die Tätigkeit von Krankenpflegehelfer / -innen. Zeitintensive und kernprozessferne Tätigkeiten könnten durch entsprechend qualifiziertes Personal durchgeführt werden. Hierzu kann es ebenfalls notwendig sein, neue Berufsbilder zu prägen. Dies führt zu einer zeitlichen Entlastung von therapeutischem Personal und zu einer Verbesserung der patientenzentrierten Arbeit.

Erforderlich zur Umsetzung dieses Modells wäre die verbindliche Einführung einer qualifizierten Weiterbildung zur / m psychiatrischen Fachpflegerin/ Fachpfleger (Beispiel: Zusatzausbildung zur „Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung” an der Medizinischen Hochschule Hannover). In dieser Weiterbildung könnte die Basis für die selbstständige Durchführung von psychoedukativen und soziotherapeutischen Gruppen gelegt werden. Durch eine entsprechende Gestaltung der Lehrpläne könnten die Basisfertigkeiten zur Durchführung von Patienten- und Angehörigengruppen und psychotherapeutische Basiskompetenzen vermittelt werden. Ein praxisorientiertes Examen, in welchem beispielsweise die Durchführung eines Gruppenangebots kollegial überprüft wird, könnte diesen Weiterbildungsgang abschließen.

Wichtig bleibt bei solchen Bemühungen, den therapeutischen Spielraum für jede Berufsgruppe festzulegen. So müssen beispielsweise Fragen der Delegierbarkeit ärztlicher Tätigkeiten und der Berufsgruppenidentität geklärt werden, bevor zuvor ärztliche Tätigkeiten auf andere Berufsgruppen übertragen werden. Diese Diskussion ist in zweifacher Hinsicht relevant: Zum einen müssen unter berufspolitischen Gesichtspunkten klare Zuständigkeiten und Abgrenzungen der therapeutischen Berufsgruppen definiert werden. Weiter muss unter ökonomischen Gesichtspunkten zumindest die Gefahr gesehen werden, dass Arbeitgeber versucht sein könnten, durch Übertragung ärztlicher Tätigkeit an nichtärztliche Berufsgruppen Kosten zu sparen.

Zusammenfassung

Die „sprechende Medizin” gerät durch Ökonomisierung, Mitarbeitermangel und Konkurrenz in eine schwierige Situation. Einige Probleme können möglicherweise durch eine Differenzierung von pflegerischen Aufgaben gemildert werden. Notwendig wäre eine verbindliche Einführung von qualifizierten Zusatzausbildungsgängen, die u. a. Kompetenzen in der Durchführung psychoedukativer und soziotherapeutischer Gruppenangebote vermitteln. Eine Definition von Kernprozessen und die Standardisierung von Therapieprozessen sind wichtig, um zu einer möglichst hohen Adhärenz an eine leitliniengerechte Therapie zu gelangen.

Vorhandene Personalressourcen könnten durch eine Übertragung differenzierter therapeutischer Aufgaben an entsprechend qualifiziertes Personal effizienter eingesetzt werden. Die Praxis zeigt, dass hierbei die Patientenzufriedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit gleichermaßen wachsen. So könnte im Idealfall eine intensivierte Therapie im Sinne eines „biopsychosozialen” Krankheitsmodells ohne Mehrkosten angeboten werden.

Literatur

  • 1 Voderholzer U, Hohagen F. Therapie psychischer Erkrankungen: State of the Art 2007 / 2008 (3. Auflage). München; Urban& Fischer 2007
  • 2 Stellungsnahme der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.  Dtsch Ärztebl. 1988;  85 2604-2605
  • 3 Juckel G, Morosini P L. The new approach: psychosocial functioning as a necessary outcome criterion for therapeutic success in schizophrenia.  Curr Opin Psychiatry. 2008;  21 (6) 630-639
  • 4 Amering M, Schmolke M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn; Psychiatrie Verlag 2007
  • 5 Weinmann S. Erfolgsmythos Psychopharmaka – Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen. Bonn; Psychiatrie Verlag 2008
  • 6 Schulz M, Dorgerloh S, Ratzka S. et al . Compliance und Adherence – Therapeutische Interventionen zur Beeinflussung der Adherence chronisch Kranker gehören zur ureigensten Domäne professionellen pflegerischen Handelns.  PADUA – die Fachzeitschrift für Pflegepädagogik. 2007;  3 44-49
  • 7 Hausner H, Hajak G, Spießl H. „Kooperative Verantwortung”: Das neue Gutachten des Sachverständigenrates zur Entwicklung des Gesundheitswesens.  Psychiat Prax. 2007;  34 355-366
  • 8 Dahlgaard K, Stratmeyer P. Kooperatives Prozessmanagement im Krankenhaus.  Das Krankenhaus. 2004;  (8) 634 -640
  • 9 Schulz M, Renard C, Keogh J. Analyse des Gruppenangebotes einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik anhand von Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien.  Krankenhauspsychiatrie. 2006;  17 25-30

PD Dr. med. Kai G. Kahl

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: kahl.kai@mh-hannover.de

Dr. rer. medic. Michael Schulz

Psychiatrische Pflegeforschung
Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Evangelisches Krankenhaus

Remterweg 69–71

33617 Bielefeld

Email: Michael.Schulz@evkb.de