Gesundheitswesen 2009; 71: S54-S55
DOI: 10.1055/s-0029-1220694
Ethik der Kosten-Nutzen-Bewertung

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kosten-Nutzen-Bewertung im deutschen Gesundheitswesen. Ein Kommentar aus Sicht der gemeinsamen Selbstverwaltung

Cost-benefit assessment in the German Health Care System: Perspective of the Federal Joint CommissionR. Hess 1
  • 1Gemeinsamer Bundesausschuss Siegburg
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Publication Date:
14 July 2009 (online)

Also zunächst muss ich Herrn Dietz bestätigen. Wir tun uns mit der ethischen Beurteilung einer Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland sehr viel leichter als andere Staaten, weil diese Kosten-Nutzen-Bewertung nicht zu Rationierungsentscheidungen herangezogen werden kann. Nach unserer geltenden Verfassung dürfen wir keine Rationierungsentscheidungen mit irgendwelchen Budgetobergrenzen, jedenfalls als Bundesausschuss, treffen. Das heißt, bei uns findet Kosten-Nutzen-Bewertung immer zwischen zwei Alternativen zur Behandlung derselben Krankheit statt. Wir können also nicht sagen, die Behandlung von Diabetes ist zu teuer im Verhältnis zur Behandlung von Brustkrebs und deswegen nehmen wir die Indikation Brustkrebs heraus oder schränken die Behandlung hier ein. Diese rechtliche Möglichkeit haben wir nicht, und das macht die Sache in ethischer Hinsicht leichter. In der Umsetzung haben wir natürlich dann dieselben Probleme. Da muss ich diesmal Herrn Professor Sawicki Recht geben, wir haben nicht die Möglichkeit einen Schwellenwert über diese Bewertung zu ziehen und zu sagen, wir bewerten Arzneimittel immer nach demselben Schwellenwert, nehmen also für die Arzneimittelversorgung einen Wert, der gesellschaftspolitisch gefunden wird, und sagen, alles, was darüber hinaus geht, wird im Prinzip nicht zu Lasten der GKV bezahlt. Am Beispiel von Lucentis lässt sich die Problematik gut darstellen. Lucentis ist ein sehr teures Arzneimittel zur Behandlung der feuchten Makulardegeneration des Auges. Für diese Indikation gibt es kein anderes gleich wirksames zugelassenes Arzneimittel. Trotzdem regen sich alle darüber auf, dass es so teuer ist; weil es ein anderes sehr viel preisgünstigeres Präparat, Avastin, gibt, das einen nahezu identischen Wirkstoff hat. Dieses ist allerdings ausschließlich zur Behandlung von Darmkrebs zugelassen. Einem Einsatz im off label use steht entgegen, dass eine, wenn auch teure Standardtherapie verfügbar ist und der Hersteller von Avastin sich weigert, den therapeutischen Nutzen seines Präparates für die Behandlung des Auges, mit dem Ziel einer Zulassung auch für diese Indikation in klinischen Studien, belegen zu lassen. Man könnte jetzt sagen, das Präparat Lucentis ist zu teuer, also schränken wir die Behandlung wegen Überschreiten eines für die GKV vertretbaren Schwellenwertes ein. Diese Möglichkeit haben wir nicht. Auch das Bundessozialgericht hat entschieden, dass bei einem belegten therapierelevanten Zusatznutzen durchaus höhere Kosten eines Arzneimittels in Kauf genommen werden müssen. Der Preis als solches ist also kein Kriterium für einen Verordnungsausschluss. Ob das auf Dauer so bleiben kann, ob wir uns in Deutschland nicht in Richtung anderer Länder bewegen müssen und ob wir nicht auch die Notwendigkeit von Rationierungsentscheidungen anerkennen müssen, weil unser System sonst nicht mehr finanzierbar ist, diese Fragen werden sich für die Zukunft stellen und dann unter ethischen Gesichtspunkten zu diskutieren sein. Unter jetzigen Gesichtspunkten hat der GBA nur den Auftrag, Rationalisierungsentscheidungen zu treffen, das heißt, bei mehreren Möglichkeiten zur Behandlung einer Erkrankung, die Leistungspflicht der GKV auf die effizientere Methode zu begrenzen. Diese Auswahlentscheidung unter Behandlungsalternativen wird in der Arzneimitteltherapie aber dadurch erschwert, dass sämtliche zu bewertenden Arzneimittel bereits auf dem GKV-Markt verordnungsfähig sind. Das heißt, wir bewerten nicht ein neues Arzneimittel, das zur Aufnahme in den GKV-Markt ansteht, sondern das Präparat ist bereits auf dem Markt und es ist zu Lasten der GKV zu dem Preis verordnungsfähig, den der Hersteller selbst festsetzt. Das ist der Grund aus dem wir uns Kosten-Nutzen Modellierungen, die sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wegen der Belastungsgrenze des GKV-Systems nicht leisten können. Und dies wiederum ist der Grund, warum auch der Bundesausschuss dazu neigt, in einem zweistufigen Bewertungssystem mit einer Nutzenbewertung einzusteigen und nur dann eine Kosten-Nutzen-Bewertung durchzuführen, wenn der Zusatznutzen nach evidenzbasierten Kriterien belegt ist. Hätten wir ein anderes Zulassungssystem, also hätten wir die Notwendigkeit einer Bewertungsentscheidung der GKV vor Marktzulassung, dann müsste man über Modellierung nachdenken. Dann besteht nach der Transparenz-Richtlinie der EU die 210-Tage-Frist, innerhalb der entschieden werden muss. Genau das gilt aber für das deutsche Gesundheitswesen eben nicht, und deswegen bin ich auch der Meinung, dass wir versuchen müssen, das Problem der Kosten-Nutzen-Bewertung pragmatisch zu lösen und nicht mit zu hohen ethischen Problemen zu belasten. Wir sollten das Modell von Herrn Professor Sawicki auf seine Praktikabilität hin durchdeklinieren und wir sollten in der Tat das eine oder andere Medikament nach dieser Methodik bewerten. Probleme ergeben sich dann immer noch genug, z. B. wie definiere ich den Nutzen und wie definiere ich die Kosten? Also die gezeigten Grafiken sind sehr schön; aber sie konkret auszufüllen wird schwierig werden, weil wir keine richtigen Daten in Deutschland haben. Das ist das dritte Manko, das ich für die Bundesrepublik sehe. Wir haben keine gesicherten Daten um, bezogen auf Arbeitsunfähigkeit, Pflegbedürftigkeit oder Krankenhausverweildauer im Verhältnis zweier Medikamente zueinander, modellieren zu können. Ich wüsste nicht, wo wir zum Beispiel bei einer Kosten-Nutzen- Bewertung Clopidogrel versus ASS, gesicherte Daten abgreifen könnten, die kausal die Einsparung von Krankenhauskosten durch die Behandlung mit dem teueren Präparat belegen würden. Die Daten gibt es nicht in Deutschland und sie müssten zunächst gesichert in Vergleichsstudien erhoben werden. Auch darauf stützt sich meine Meinung, dass wir pragmatisch vorgehen müssen. Wir sollten auch nicht versuchen, jetzt andere Leistungen in eine solche Kosten-Nutzen-Bewertung mit herein zu nehmen, sondern wir sollten uns zunächst auf Arzneimittel beschränken. Nur hierfür ist die Kosten-Nutzen-Bewertung im Gesetz ausdrücklich vorgesehen. Für andere Leistungen haben wir sowieso das Problem getrennter Märkte, stationäre Leistungen mit zunächst freiem Zugang und ambulante Leistungen mit Erlaubnisvorbehalt. Insoweit haben wir in der Tat ein ethisches Problem, weil der Patient aus medizinischer Sicht unnötig im Krankenhaus behandelt werden muss, um eine Leistung zu bekommen, die wir ambulant wegen eines im Verhältnis zur Standardtherapie nicht belegten Zusatznutzens ausgeschlossen haben, die aber stationär nach wie vor zu Lasten der GKV erbringbar ist. Und von daher, wie gesagt, Einstieg in die Arzneimittelbewertung und hier mit pragmatischen Ansätzen. Ebenso bin ich der Meinung, dass wir den Fachgesellschaften und der Industrie gerade wegen der Komplexität dieses Themas Gelegenheit geben sollten, im Vorfeld einer Beauftragung des IQWiG ihre Meinungen einzubringen, sprich eine Art Scoping Workshop durchzuführen. Meines Erachtens ist es wichtig, für die Akzeptanz späterer Entscheidungen des G-BA die Stellungnahmen der Industrie, der beteilgten Fachgesellschaften und der betroffenen Patientengruppen zu einem vorgesehenen Bewertungsverfahren vor Auftragserteilung nicht nur zu wissen, sondern sich in einem Gespräch auch damit auseinanderzusetzen. Auf dieser dokumentierten Grundlage sollte dann selbstverständlich, unabhängig durch den G-BA, die Auftragserteilung erfolgen und das Bewertungsverfahren durchgeführt werden. Dabei wäre auch transparent zu machen, warum man die eine oder andere Meinung nicht berücksichtigt hat.

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