Gesundheitswesen 2010; 72(7): 387-398
DOI: 10.1055/s-0029-1220917
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Evaluation von Empowermentprozessen bei sozial benachteiligten Frauen – eine lebenslagenorientierte Betrachtung

Evaluation of Empowerment among Socially Disadvantaged Women – Examination in Different Living CircumstancesS. Sperlich 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit knüpft an eine vorausgegangene Studie an, in der die Zusammenhänge von sozialer Lage, Empowermentprozessen und die Entwicklung psychischer Gesundheit bei Müttern nach einer Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahme analysiert wurden. Die Untersuchung ergab, dass die schichtspezifische Betrachtung für Frauen in der aktiven Erziehungszeit nur begrenzt aussagekräftig war. Mit der vorliegenden Arbeit wird eine Erweiterung des Untersuchungsansatzes vorgestellt und die Bedeutung weiterführender Ungleichheitsdimensionen, insbesondere Charakteristika der familiären Situation sowie psychosoziale Stressoren, im Rahmen eines Lebenslagen-Ansatzes analysiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Beantwortung folgender drei Fragen: 1. Wie entwickelt sich die psychische Gesundheit in Abhängigkeit von der konkreten Lebenslage der Mütter? 2. Welchen Einfluss hat die Lebenslage auf den Erfolg von Empowermentprozessen? 3. Lassen sich in Abhängigkeit von der Lebenslage spezifische Empowermentstrategien identifizieren, die besonders gesundheitseffektiv sind? Auf der Basis clusteranalytischer Verfahren konnten insgesamt sieben differenzierte Lebenslagen von Müttern (n=6 094) identifiziert werden, von denen zwei vor der Intervention extreme gesundheitliche Risikolagen aufweisen. Es handelt sich hierbei um ,multipel belastete und sozial isolierte unzufriedene Alleinerziehende‘ sowie ,multipel belastete verheiratete Mütter mit geringer sozialer Unterstützung und Anerkennungsproblemen‘. Die Mütter dieser Risikolebenslagen konnten zunächst überdurchschnittlich von der Intervention profitieren, jedoch stieg die psychische Symptombelastung hier mit zeitlicher Entfernung zur Intervention wieder deutlich an. Die Analyse der Empowermentprozesse hat gezeigt, dass erfolgreiches Empowerment in besonderer Weise für die Risikolebenslagen gesundheitsrelevant ist. Jedoch wird der Erfolg von Empowermentbemühungen hier besonders kritisch bilanziert, sodass das Potenzial von Empowerment in geringerem Umfang ausgeschöpft werden konnte. Insgesamt ermöglichte der lebenslagenorientierte Untersuchungsansatz eine präzisere Bestimmung von besonders bedürftigen Frauen und eine zielgruppenspezifischere Evaluation von Interventionseffekten.

Abstract

This paper follows on from a previous study which assessed the relationship between socioeconomic position, empowerment and the developement of psychological health in women after treatment in mother-child rehabilitation centres in Germany. The study revealed that socioeconomic position was less important for mothers caring for young children. For this reason the present study is based on a broader definition of social inequity, taking household conditions and psychosocial stressors into account. The aim of the paper is to answer the following questions: 1) To what extent does the improvement of psychological health depend on the living circumstances of the mothers? 2) What is the impact of living conditions on the success of empowerment? 3) Does the health-related impact of empowerment differ between different living conditions of the mothers? By conducting a cluster analysis on clinical data of the women (n=6 094), seven different living circumstances of the mothers could be detected. Two living circumstances could be identified to be related to extremely poor health. These are ‘dissatisfied single mothers with high degrees of psychosocial distress and lack of social support’, and ‘married mothers with conflicts within the family and self-perceived lack of appreciation’. At the end of inpatient treatment these mothers showed the highest reduction of psychological symptoms, but after six and twelve months the symptoms increased again. The results of empowerment showed that empowerment is most health-effective for mothers living in poor living conditions, but the success of empowerment here is less pronounced. As a consequence the health effect of empowerment was smaller for those mothers. The study suggests that health promotion programmes could be more effective when they explicitly take the living circumstances of their participants into account.

Literatur

  • 1 Richter M, Hurrelmann K. Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen. In: Richter M, Hurrelmann K, Hrsg. Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006: 11-31
  • 2 Mielck A. Projekte für mehr gesundheitliche Chancengleichheit: Bei welchen Bevölkerungsgruppen ist der Bedarf besonders groß?. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg) Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte. Aufbau einer Internetplattform zur Stärkung der Vernetzung der Akteure, Band 22. Köln: BZgA 2003: 10-19
  • 3 Streich W. Vulnerable Gruppen: Verwundbarkeit als politiksensibilisierende Metapher in der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit. In: Richter M, Hurrelmann K, Hrsg. Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006: 289-295
  • 4 Lehmann F. Kooperationsverbund zur Realisierung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten in Deutschland. In: Richter M, Hurrelmann K, Hrsg. Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006: 423-438
  • 5 Kolip P. Ressourcen für Gesundheit – Potenziale und ihre Ausschöpfung.  Gesundheitswesen. 2003;  65 155-162
  • 6 Kilian H, Brendler C, Geene R. et al .Abschlussbericht 1: „Erhebung von Projekten und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten in der Bundesrepublik Deutschland”. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Hrsg. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte. Aufbau einer Internetplattform zur Stärkung der Vernetzung der Akteure, Band 22. Köln: BZgA 2003: 65-120
  • 7 Sperlich S. Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage, Empowermentprozessen und der Entwicklung psychischer Gesundheit.  Das Gesundheitswesen. 2008;  70 779-790
  • 8 Arber S. Class, paid employment and family roles: making sense of structural disadvantage, gender and health status.  Social Science and Medicine. 1991;  32 425-436
  • 9 Sacker A, Firth D, Fitzpatrick R. et al . Comparing health inequality in men and women: prospective study of mortality 1986–96.  British Medical Journal. 2000;  320 1303-1307
  • 10 Stronks K, van de Mheen H, van de Bos J. et al . Smaller socioeconomic inequalities in health among women: the role of employment status.  International Journal of Epidemiology. 1995;  24 559-568
  • 11 Babitsch B. Soziale Ungleichheit und Gesundheit bei Frauen in Westdeutschland. In: RKI-Schriften. 1998 1: 95-112
  • 12 Babitsch B. Soziale Ungleichheit, Geschlecht und Gesundheit. Bern: Verlag Hans Huber 2005
  • 13 Drever F, Doran T, Whitehead M. Exploring the relation between class, gender, and self rated general health using the new socioeconomic classification. A study using data from the 2001 census.  Journal of Epidemiolgy and Community Health. 2004;  58 590-596
  • 14 Östlin P. Gender perspective on socioeconomic inequalities in health. In: Mackenbach J, Bakker M, Hrsg. Reducing inequalities in health. A european perspective. London and New York: Routledge 2002: 315-324
  • 15 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMfGS), Hrsg .Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin: BMfGS 2005
  • 16 Engels D. Lebenslagen. In: Lexikon der Sozialwirtschaft. Baden-Baden: Nomos 2008: 643-646
  • 17 Schmidtke K. Die Lebenslage im zeitlichen und räumlichen Vergleich. Zur methodischen Weiterentwicklung des Lebenslagenansatzes auf Basis des Sozio-ökonomischen Panels 1992 bis 2005. Dissertation, Berlin 2008
  • 18 Brähler E, Klaghofer R. Konstruktion und teststatistische Prüfung einer Kurzform der SCL-90-R.  Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 2001;  49 115-124
  • 19 Franke GH. SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von Derogatis – Deutsche Version. Göttingen: Beltz Test GmbH, 2. Auflage 2002
  • 20 Collatz J, Borchert H, Brandt A. et al. .Effektivität, Bedarf und Inanspruchnahme von medizinischen und psychosozialen Versorgungseinrichtungen für Frauen und Mütter mit Kindern. Der Beitrag von Mütterkuren zur Frauengesundheit. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Frauen und Jugend. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1994
  • 21 Collatz J, Fischer G, Thies-Zajons S. Mütterspezifische Belastungen – Gesundheitsstörungen – Krankheit. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 1998
  • 22 Strittmatter R, Bengel J, Brombacher C. et al .Die Inanspruchnehmerinnen von Mutter-Kind-Kuren. In: Rehabilitation. 1997 36: 176-184
  • 23 Neitemeier S. Müttergenesungskuren – Ihre Ziele und ihre Wirksamkeit. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. 1994 5: 192-195
  • 24 Brosius F. SPSS 14. Bonn: mitp-Verlag 2006
  • 25 Sperlich S. Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit durch Empowerment. Empirische Analyse der Gesundheitseffekte für sozial benachteiligte Mütter. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009
  • 26 Cohen J. Quantitative methods in psychology.  A power primer. Psychological Bulletin. 1992;  112 155-159
  • 27 Keupp H. Gesundheit als Lebenssouveränität – Ein sozial ungleich verteiltes Gut.  Störfaktor, Zeitschrift Kritischer Psychologinnen und Psychologen. 1995;  31 5-28
  • 28 Nestmann F. Soziale Gerechtigkeit und Empowerment.  Perspektiven des gemeindepsychologischen Modells. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. 1999;  30 129-150
  • 29 Pflaumer E. Der Widersprüchlichkeit Aufmerksamkeit schenken – Empowerment als Denk- und Handlungsansatz in der Gesundheitsförderung. In: Miller T, Pankofer S, Hrsg. Empowerment konkret! Handlungsentwürfe und Reflexionen aus der psychosozialen Praxis. Stuttgart: Lucius & Lucius 2000: 63-77
  • 30 Cairney J, Boyle M, Offord DR. et al . Stress, social support and depression in single and married mothers.  Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology. 2003;  38 442-449
  • 31 Helfferich C, Hendel-Kramer A, Klindworth H. Gesundheit alleinerziehender Mütter und Väter. In: Robert Koch-Institut, Hrsg. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 14 Berlin 2003
  • 32 Lange C, Saß AC. Risikolagen und Gesundheitssituation allein erziehender Frauen.  Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation. 2006;  72 121-126
  • 33 Bauer U, Bittlingmayer UH. Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung. In: Hurrelmann K, Laaser U, Razum O, Hrsg. Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim und München: Juventa 2006: 781-818

Korrespondenzadresse

Dr. S. Sperlich

Medizinische Hochschule Hannover

Medizinische Soziologie

OE 5420

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: sperlich.stefanie@mh-hannover.de