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DOI: 10.1055/s-0029-1222545
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Therapie der Psychosen - Ein interdisziplinärer Ansatz
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. Mai 2009 (online)
Niedrigdosierung von Antipsychotika und aufsuchende Versorgungsansätze werden endlich auch in Deutschland diskutiert. Zum richtigen Zeitpunkt erscheint die Übersetzung des 2000 auf Schwedisch erstveröffentlichten Buchs zur Schizophreniebehandlung von Johan Cullberg. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger klinischer und forschender Tätigkeit als Psychiater und zugleich als betroffener Angehöriger legt der Initiator des "Fallschirm"-Projektes ein weit ausgreifendes Plädoyer für einen respektvollen Umgang mit schizophren Erkrankten vor. Mit dem Anspruch, Perspektiven und Ergebnisse der Natur- und Humanwissenschaften zu integrieren, entwirft er ein "umfassendes Bild psychotischer Menschen als menschliche Wesen". (Akute) Psychosen werden als einfühlbare und rekonstruierbare Reaktionen auf ungelöste Lebens- und Beziehungsprobleme verstanden, als gescheiterte Anpassungsstrategie der Persönlichkeit an einen Zustand mangelnder Grenzziehung, in dem das Ich seine steuernden Funktionen eingebüßt hat. Kompetent und durch viele Fallgeschichten anschaulich, führt der erste Teil in Erscheinungsvielfalt, Verläufe und Erklärungsansätze schizophrenen Erlebens ein. Auf der Grundlage intensiver psychotherapeutischer und supervisorischer Erfahrung ermöglicht der Autor dem Leser, sich einem Verständnis des zunächst beunruhigend Fremden ohne Verklärung zu nähern. Differenziert wird eine integrative Sicht psychotischer Verletzlichkeit im Rahmen eines "neurodynamischen Modells" vertreten und souverän auch die Grenzen unseres Wissens und unserer Interventionen trotz bzw. gerade wegen vieler Jahrzehnte Schizophrenieforschung benannt.
Konsequent wird der zweite Teil des Bandes "Die Genesung unterstützen" überschrieben. Einleitend werden die historischen Wurzeln der zeitgenössischen Behandlung zusammengefasst und ihr die versorgungsstrukturellen Voraussetzungen einer "guten und rationellen Betreuung" gegenübergestellt. Die wesentlichen Elemente des bedürfnisangepassten Vorgehens - kompetente Soforthilfe, aufsuchende und flexible Krisenintervention unter Einbezug der Angehörigen, gemeinsame Problemformulierung, Beziehungskontinuität, niedrigdosierte Pharmakotherapie, nächtliche Betreuung und Nachsorge - werden schlüssig dargestellt. Die bislang vorgelegten katamnestischen Ergebnisse bestätigen für psychotische Ersterkrankungen eine überzeugende Rückbildung der Beschwerden, weniger funktionelle Behinderungen, einen maßvolleren Einsatz von Antipsychotika, weniger Krankenhaustage und eine höhere Zufriedenheit. Der psychodynamisch orientierte Anteil der Behandlung begrenzt sich pragmatisch darauf, eine realistische Sicht der eigenen Erfahrungen wiederherstellen, indem Zusammenhänge zwischen Psychose und spezifischen Vulnerabilitäten erarbeitet werden.
In einem engagierten Nachwort weisen Greve und Aderhold auf die Überlegenheit eines Krankheitsverständnisses hin, das den sozialen Kontext und die Lösungskompetenzen Psychoseerfahrener in der akuten Krise und in ihrer langfristigen Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Sie regen trotz der in Deutschland erschwerten sozialrechlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen an, vorhandene Ansätze von Ambulantisierung bzw. Home-Treatment über ein landesweites Netzwerk systematisch weiterzuentwickeln.
Cullberg wird mit seinem Opus magnum auch neue Mitstreiter ermutigen: Trotz der Fülle von Befunden liest es sich flüssig, unterstützt durch ein gelungenes Layout und Stichwortverzeichnis, das eine gezielte Wiederaufnahme der Lektüre erleichtert. Kritisch ist anzumerken, dass der Verlauf schizophrener Psychosen zu optimistisch dargestellt und die älteren Langzeitstudien zu pauschal anerkannt erscheinen. Angesichts der in den letzten Jahren zunehmend ernüchternden Ergebnisse zu Wirkung und Nebenwirkungen der Atypika hätte man sich eine differenziertere Würdigung der Pharmakotherapie gewünscht einschließlich eindeutigerer Kriterien, auf ihren Einsatz zunächst zu verzichten.
Hasso Klimitz, Potsdam
eMail: HKlimitz@klinikumevb.de
Cullberg J. Therapie der Psychosen - Ein interdisziplinärer Ansatz. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2008, 320 S., 49,95 €, ISBN: 978-3-88414-435-0