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DOI: 10.1055/s-0029-1223370
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Gemeinsame Empfehlung der AWMF und der DGUV in Zusammenarbeit mit der DGAUM und der DGSMP bei der Entwicklung von Leitlinien und Empfehlungen zur Begutachtung von Berufskrankheiten[1] [2]
Joint Recommendations of AWMF and DGUV in Co-Operation with DGAUM and DGSMP for the Development of Guidelines and Recommendations for the Assessment of Occupational DiseasesPublication History
Publication Date:
02 December 2009 (online)
Entscheidungen in Begutachtungsverfahren zu Berufskrankheiten werden in der Regel auf der Grundlage medizinischer Gutachten von der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung bzw. von den Sozialgerichten getroffen. Die Begutachtung von Berufskrankheiten basiert rechtlich auf den SGB und den entsprechenden Verordnungen.
Die Begutachtung von Berufskrankheiten gehört zu den Aufgaben der Fachärzte der zuständigen Fachgebiete, insbesondere von Fachärzten und Fachärztinnen für Arbeitsmedizin als Querschnittsdisziplin für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Erkrankungen. Vergleichbar liegen umfassende Erfahrungen in der Zusammenführung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit verwaltungspraktischen und sozialrechtlichen Anforderungen im Bereich der Sozialmedizin vor.
Vor diesem Hintergrund haben
die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) als Dachorganisation der medizinischen Fachgesellschaften und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) im Einvernehmen mit der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV) als Spitzenverbände der gesetzlichen Unfallversicherung
in Beratungen mit
der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) folgende Empfehlung zu einem gemeinsamen Vorgehen formuliert.
Originäre Aufgabe der wissenschaftlichen Fachgesellschaften ist es, wissenschaftliche Grundlagen für eine evidenzbasierte Ausübung des Faches in der Praxis zu schaffen und diese in adäquater Weise zu formulieren. Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die Erarbeitung von Leitlinien.
Wissenschaftliche Leitlinien sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte und Patienten zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die Leitlinien sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder unmittelbar haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung. Leitlinien können sich neben Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation auch auf die Begutachtung als ärztliche Aufgabe beziehen.
Wissenschaftliche Leitlinien zur Begutachtung von Berufskrankheiten enthalten die Darstellung des Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse insbesondere in der Diagnostik des Krankheitsbildes und der Feststellung von Funktionseinschränkungen sowie der Beurteilung von Ursachenzusammenhängen zwischen Exposition und Erkrankung sowie zwischen Erkrankung und Funktionseinschränkungen (im Folgenden: Leitlinien).
Empfehlungen zur Begutachtung bei Berufskrankheiten (im Folgenden: Begutachtungsempfehlungen), die interdisziplinär die medizinischen und rechtlichen Fragen der Begutachtung behandeln, werden von der DGUV im Auftrag der Unfallversicherungsträger gemeinsam mit den zuständigen Fachgesellschaften erarbeitet, um die Gleichbehandlung der Erkrankten zu gewährleisten.
Die Begutachtungsempfehlungen richten sich vorrangig an Gutachter und Sachbearbeiter der Unfallversicherungsträger und sollen die Beweisfragen des Gutachtenauftrages erläutern sowie das relevante Wissen aus der Leitlinie ggf. auch mit Bezug auf konkrete Sachverhaltskonstellationen zusammenfassen.
Im Ergebnis sollen Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen Hilfestellungen für den Gutachter sein, um im konkreten Einzelfall ein Gutachten auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu fertigen und damit ein schlüssiges und verstehbares Fundament für die Entscheidungsfindung zu liefern.
Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen sind somit aus unterschiedlicher Perspektive auf das gleiche Aufgabenfeld und vergleichbare Ziele ausgerichtet.
Um Doppelarbeit und Widersprüche bei Unterschieden in Trägerschaft und Organisation zu vermeiden, empfehlen AWMF, DGUV in Zusammenarbeit mit der DGAUM und der DGSMP, Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen in einem aufeinander abgestimmten 2-stufigen Verfahren zu erarbeiten.
Folgendes Vorgehen wird empfohlen:
1. Initiierung
Wenn eine Fachgesellschaft die Erarbeitung einer Leitlinie beabsichtigt, erfolgt eine Abstimmung mit der DGUV bezüglich einer ergänzenden Begutachtungsempfehlung. Entsprechend erfolgt die Einbeziehung zuständiger Fachgesellschaften, wenn die DGUV die Erstellung von Begutachtungsempfehlungen plant.
Dabei stimmen DGUV und Fachgesellschaften das weitere Vorgehen miteinander ab. Hierzu gehört insbesondere, welche Fachgesellschaften federführend sind und welche weiteren Organisationen zu beteiligen sind.
2. Zweistufiges Verfahren
Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen werden in einem zweistufigen Verfahren erarbeitet. Über die Details der Bearbeitung, insbesondere des Ablaufs und des Zeitplans, stimmen sich DGUV und Fachgesellschaften ab.
Die inhaltliche Verpflichtung ist von der Verantwortung für den jeweiligen Arbeitsprozess zu unterscheiden.
Die 1. Stufe betrifft die medizinischen Fragen; sie wird als Leitlinie nach dem Regelwerk der AWMF (Anhang 1) unter Verantwortung der federführenden Fachgesellschaften erarbeitet. Die DGUV ist angemessen und mit Stimmrecht zu beteiligen.
Die 2. Stufe betrifft die juristischen und die medizinisch-juristischen Fragen. Sie wird als gemeinsame Begutachtungsempfehlung der DGUV und der beteiligten Fachgesellschaften unter Verantwortung der DGUV erarbeitet.
Die DGUV benennt in angemessener Zahl Vertreter der Unfallversicherungsträger und ihrer Einrichtungen zur Mitwirkung zusätzlich zu den an der Erarbeitung der Leitlinie beteiligten Fachgesellschaften. Die beteiligten Fachgesellschaften / Organisationen sind angemessen und stimmberechtigt zu beteiligen.
Die Begutachtungsempfehlung wird nach den Grundsätzen der DGUV für Empfehlungen zur Begutachtung bei Berufskrankheiten (Anhang 2) erarbeitet.
Die Zuordnung der zu behandelnden Themen zu den Stufen ergibt sich aus [Tab. 1]. Ergänzungen und Abweichungen, wie sie ggf. bei besonderen Fragestellungen erforderlich werden, sind vorab zwischen den beteiligten Fachgesellschaften und der DGUV zu vereinbaren.
Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen bilden inhaltlich eine aufeinander abgestimmte Einheit. Widersprüche zwischen beiden sind zu vermeiden. Die Begutachtungsempfehlungen bauen hinsichtlich der medizinischen Fragen auf den Aussagen der Leitlinien auf, die ihrerseits keine rechtlichen Wertungen umfassen sollen.
Den Rahmen des Gesamtwerkes bilden eine gemeinsam zu erstellende Darstellung der Ausgangslage und Zielsetzung, des durchgeführten Verfahrens unter Nennung der Beteiligten und der von ihnen vertretenen Organisation sowie nach Möglichkeit eine Kurzfassung. Beide werden dementsprechend von der AWMF, den Fachgesellschaften und der DGUV als Einheit oder getrennt mit entsprechenden Hinweisen auf die Leitlinie bzw. auf die Begutachtungsempfehlung publiziert.
3. Gültigkeit der Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen
Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen haben in der Regel eine Gültigkeit von 5 Jahren ab Fertigstellung. Vor Ablauf dieser Gültigkeitsdauer sind sie auf ihren Überarbeitungsbedarf hin zu überprüfen. Sollten vor Ablauf der Gültigkeitsdauer neue Erkenntnisse auftreten, sind diese von den Entwicklern bezüglich ihrer Leitlinienrelevanz zu untersuchen und ggf. in die Leitlinien bzw. Begutachtungsempfehlungen zu integrieren.
4. Geltung dieser gemeinsamen Empfehlung
Diese Empfehlung soll für alle Begutachtungsprojekte (Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen) gelten, die ab 1.1.2010 initiiert werden.
Tab. 1 Mustergliederung Leitlinie / Begutachtungsempfehlung BK Nr. Gliederungsüberschrift Erläuterung zum Inhalt A A.1 Vorwort Anlass, Hintergrund, Einordnung A.2 Ziel Zweck, Anwendungsbereich und Kontext A.3 Bestandsaufnahme A.4 Verfahren – behandelte Fragestellungen– Zielgruppen– Evidenzbasierung– Konsensfindung– Beteiligte A.5 Erklärung / Offenlegung möglicher Interessenskonflikte – redaktionelle Unabhängigkeit– finanzierende Organisation A.6 Kurzfassung A.7 Zitierte und weiterführende Literatur B LEITLINIE B.1 Klinischer und wissenschaftlicher Kenntnisstand zur BK Nr. B.1.1 Medizinische Definition des Krankheitsbildes B.1.2 Epidemiologie des Krankheitsbildes B.1.3 Pathophysiologie der BK Nr. Pathologische Anatomie / Pathomechanismus B.1.4 BKspezifische Studienlage zu – Krankheitsbild – Kausalzusammenhang – Folgen z. B.– generelle Geeignetheit– Dosis-Wirkungsbeziehungen zwischen Exposition und Krankheit B.1.5 Wechselwirkungen mit anderen Einwirkungen B.1.6 Krankheitsfolgen / Einschränkungen bei Vorliegen der BK Nr. B.1.7 Besonderheiten z. B. Studienlage zu Histologiebefunden versus Röntgenbefunden bei der Silikose B.2 Diagnostik des Krankheitsbildes B.2.1 Anamnese einschl. der Arbeitsanamnese B.2.2 Körperliche Untersuchung B.2.3 Weiterführende Diagnostik z. B.Studienlage zu Wertigkeit (Testgüte) und Nutzen diagnostischer Verfahren in Hinblick auf das Patientenoutcome B.2.4 Differenzialdiagnostik B.3 Feststellen der Funktionseinschränkungen B.3.1 Kausalzusammenhang zwischen Krankheitsbild und Funktionseinschränkung z. B.systematische Literaturrecherche und Bewertung von Studien zur Ätiologie, Pathogenese und Kausalzusammenhänge B.3.2 Positives Leistungsbild B.3.3 Negatives Leistungsbild B.4 Kenntnisse zur Prävention z. B.Studienlage zur– Primär-,– Sekundär- und– Tertiärprävention B.5 Therapie und Rehabilitation z. B.systematische Literaturrecherche und Bewertung spezieller therapeutischer und rehabilitativer Verfahren C BEGUTACHTUNGSEMPFEHLUNG Empfehlungen für die Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens C.1 Berufskrankheitenrechtliche Grundlagen C.1.1 Tatbestandsmerkmale der BK Nr. rechtssystematische Einordnung C.1.2 Versicherte Einwirkung (typische Exposition) ggf. Erläuterungen zur Dosis (-Grenzwert) C.1.3 Rechtliche Definitionen C.1.3.1 Kausalitätsgrundsätze C.1.3.2 Beweisgrundsätze C.1.3.3 ggf. versicherungsrechtliche Voraussetzungen sofern dazu auch eine medizinische Einschätzung erforderlich ist, z. B. Unterlassungszwang C.1.3.4 Versicherungsfall / Leistungsfall C.1.4 Berufskrankheitenverfahren und Begutachtung Definition des Gutachtens,rechtl. Stellung und Verantwortung des Gutachters C.1.5 Zusammenwirken von Unfallversicherungsträger und Gutachter Umfang der Vorermittlungen C.2 Diagnose der BK C.2.1 Diagnostik Umfang der erforderlichen Diagnostik für den Vollbeweis C.2.2 Anamnese ggf. Leitfaden für die Arbeitsanamnese C.2.3 Diagnosesicherung Möglichkeiten der Diagnosesicherung, Differenzialdiagnosen C.3 Funktionseinschränkungen und MdE C.3.1 Feststellung der Funktionseinschränkungen einschließlich sekundären Krankheitsfolgen C.3.2 Zusammenhang zwischen Berufskrankheit und Funktionseinschränkungen – Zuordnung der Funktionseinschränkungen zur BK Nr. – Plausibilitätskriterien – Vor- / Nachschäden C.3.3 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) rechtliche Grundlagen – Definition – Ermittlung und Bemessung der MdE – Beginn und Staffelung C.3.3.1 Bemessung der MdE / Bewertung der Funktionseinschränkungen ggf. durch / mit tabellarischer Darstellung C.4 Funktionseinschränkungen und Gesundheitsgefährdung bei der aktuellen beruflichen Tätigkeit C.4.1 Empfehlungen zu Maßnahmen nach § 3 BKV rechtliche Grundlagen C.4.1.1 Unterlassungszwang / Tätigkeitsaufgabe medizinische Einschätzung C.4.1.2 Auswahlkriterien für § 3-Maßnahmen C.5 Empfehlungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation / Hilfsmittelversorgung C.6 Nachuntersuchungen Erfordernis, Umfang, Intervall C.7 Anlagen C.7.1 Mustergutachtenauftrag
1 verabschiedet von AWMF, DGUV, DGAUM und DGSMP im September und Oktober 2009.
2 erscheint auch in Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 2009; 12: 646–652, Gentner, Stuttgart.
1 verabschiedet von AWMF, DGUV, DGAUM und DGSMP im September und Oktober 2009.
2 erscheint auch in Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 2009; 12: 646–652, Gentner, Stuttgart.
Dr. Gert von Mittelstaedt
MDK Hessen
Zimmersmühlenweg 23
61440 Oberursel
Email: K.Jesgarek@mdk-hessen.de