Psychiatr Prax 2010; 37(1): 4-6
DOI: 10.1055/s-0029-1223411
Debatte: Pro & Kontra

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Trinkmengenangaben führen zur systematischen Fehlbeurteilung des Alkoholisierungsgrades

Reported Alcohol Consumption Results in Systematically Misjudged Degrees of Alcoholisation Pro:Hans-Ludwig  Kröber, Kontra: Matthias  Graw
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Publication Date:
13 January 2010 (online)

Pro

Akute Alkoholisierung ist in Deutschland der häufigste Grund für eine Strafmilderung. Die gutachterliche Beurteilung, ob ein zumindest mittelgradiger Alkoholrausch vorlag, wird infolge höchstrichterlicher Entscheidungen dominiert von der Frage nach der Blutalkoholkonzentration (BAK) zur Tatzeit. Die tatzeitnahe gemessene BAK hat sicherlich indizielles Gewicht, vor allem bei Gelegenheitskonsumenten von Alkohol. Die Schuldfähigkeitsbeurteilung allein anhand Trinkmengenangaben hingegen führt zumindest dann in die Irre, wenn nach den Vorgaben des Bundesgerichtshofs auf jeder Ebene die jeweils unwahrscheinlichsten biologischen Werte (für Resorptionsverlust, Alkoholabbau etc.) angesetzt werden. Sehr viel aussagekräftiger sind neurologische und kognitive Ausfallserscheinungen, wie sie bei mittelgradiger und schwerer alkoholischer Berauschung zwangsläufig auftreten – ihr Fehlen signalisiert einen allenfalls unbedeutenden Alkoholeinfluss. Trinkmengenangaben nach BGH-Regeln führen hingegen systematisch zur Fehlbeurteilung.

Eine Besonderheit der deutschen Rechtsprechung besteht darin, dass ein gut beratener, hinreichend intelligenter Angeklagter durch die Behauptung einer bestimmten Trinkmenge selbst festlegen kann, ob er in den Genuss verminderter Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit wegen Vollrausches kommen möchte oder nicht. Die Richter müssen nur die Grundrechenarten und die Widmark-Formel beherrschen (BAK = Alkoholaufnahme in Gramm minus 10 % Resorptionsverlust, geteilt durch Körpergewicht in kg × 0,7), den Alkoholgehalt der berichteten Getränke kennen und das Körpergewicht des Angeklagten erfragen. Tatsächlich handelt es sich um eine Schätzung, nicht um eine Berechnung. Diese Schätzung leidet darunter, dass viele Einzelfaktoren in das Ergebnis eingehen. Für diese Einzelfaktoren wird gemäß Rechtsprechung jeweils der für den Angeklagten günstigste Wert eingesetzt, auch wenn er sehr unwahrscheinlich ist; dies führt zu einer systematischen Verfälschung des Resultats [1] [2] [3].

Diese das Ergebnis bestimmenden Unsicherheiten sind:

häufige Differenz zwischen Trinkmenge und Trinkmengenangabe, selbst bei subjektivem Bemühen um Ehrlichkeit; wenige Trinker führen zuverlässig Buch, noch weniger wissen ihre Trinkmengen nach Tagen und Monaten. Zeitdifferenz zwischen tatsächlichem und angegebenem Trinkbeginn. Abweichung des realen vom unterstellten Alkoholgehalt der Getränke. individuelle Unterschiede im Resorptionsverlust, der zwischen 10 und 40 % variiert sowie des Verteilungskoeffizienten (zwischen 0,6 und 0,8). (bisweilen große) Differenz zwischen angegebenem und tatsächlichem Körpergewicht (die meisten halten sich für leichter, als sie sind, erstaunlich selten wird gemessen). Weite Schwankungen im individuellen stündlichen Alkoholabbau – bei Gelegenheitstrinkern zwischen 0,12 und 0,18 ‰ pro Stunde, bei massiv Alkoholgewöhnten bis zu 0,3 ‰ pro Stunde 4.

Tatsächlich werden solche BAK-Schätzungen in der Regel auf zwei Stellen hinter dem Komma berechnet, dabei ist ihre Genauigkeit noch nicht einmal in der ersten Stelle vor dem Komma gegeben. Die Faustregel lautete schon früher: die BAK nach Trinkmengenangaben ist in der Regel doppelt so hoch wie die tatsächliche BAK.

Dies ließ sich empirisch belegen [3]. Wir haben an 119 konsekutiven Schuldfähigkeitsgutachten geprüft, wie oft Alkohol eine Rolle spielte. Bei 56 spielte prozessual Alkohol eine bedeutsame Rolle. Bei 24 Taten lagen sowohl eine tatzeitnah gemessene BAK als auch Trinkmengenangaben vor. Wir haben anhand der Trinkmengenangaben und der BGH-Regeln die BAK errechnet, die man hätte zugrunde legen müssen, wenn keine Blutprobe genommen worden wäre. Die Ergebnisse dieser Berechnung wurden verglichen mit den tatsächlich gemessenen Werten.

Die anhand Trinkmengenangaben nach BGH-Regeln errechnete BAK betrug im Durchschnitt der 24 Fälle 3,4 ‰, die tatsächlich gemessene durchschnittliche BAK 1,9 ‰, die Differenz war mithin 1,5 ‰.

Es gab 2 Fälle ohne Differenz zwischen gemessener und errechneter BAK und 2 Fälle mit nur geringer Differenz (jeweils 0,3 ‰).

Es gab einen einzigen Fall, wo die errechnete BAK deutlich niedriger lag als die wirklich gemessene BAK. Das war ein chronischer Alkoholiker, der wahrscheinlich noch einen erheblichen Überhang vom Vortag hatte.

Wenn man von der errechneten BAK auf die Schuldfähigkeit schließt, dann waren insgesamt 4 (17 %) von 24 Ergebnissen richtig. Auf die 3 Zielkategorien bezogen heißt dies: 3-mal richtige Zuordnung zu „voll schuldfähig”, einmal korrekte Zuordnung zu „vermindert schuldfähig”.

Hingegen waren 20 (83 %) der Ergebnisse falsch. Zwölfmal (50 %) gab es eine Fehlzuordnung um eine Schuldfähigkeitskategorie, nämlich 4-mal von „voll schuldfähig” zu „vermindert”, 7-mal von „vermindert schuldfähig” zu „schuldunfähig / Vollrausch” und einmal eine zuungunsten des Angeklagten. In jedem dritten Fall hätte es, wenn man nach den Trinkmengenangaben gegangen wäre, eine Verschiebung um 2 Schuldfähigkeitskategorien gegeben, also von „voll schuldfähig” zu „schuldunfähig / Vollrausch” (33 %).

Anhand dieser Befunde kann man feststellen:

Trinkmengenangaben, die zu BAK-Werten unter 2 ‰ führen, sind glaubhaft. Trinkmengenangaben, die zu Werten ab 2 ‰ führen, sind fast immer deutlich überhöht, auch wenn der Angeklagte sich redlich um Ehrlichkeit bemüht. Dies liegt an den Vorgaben des Bundesgerichtshofs, in 8 verschiedenen Einflussvariablen jeweils von einem Optimalwert im Sinne des Angeklagten auszugehen. Eine solche, auf Trinkmengen-BAK gestützte Schuldfähigkeitsbeurteilung führte in 83 % der Fälle zu einer Fehlbeurteilung. In einem Drittel der Fälle werden voll Schuldfähige zu Schuldunfähigen (bzw. Vollrauschfällen).

Conclusio: Die Schuldfähigkeitsbeurteilung anhand von Trinkmengenangaben ist ein Verfahren zur systematischen, regelgeleiteten Fehlbeurteilung der Schuldfähigkeit.

Literatur

  • 1 Gerchow J, Heifer U, Schewe G. et al . Die Berechnung der maximalen Blutalkoholkonzentration und ihr Beweiswert für die Beurteilung der Schuldfähigkeit.  Blutalkohol. 1985;  22 77-107
  • 2 Miltner E, Schmidt G, Six A. Zum Stellenwert der Blutalkoholkonzentration bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit.  Blutalkohol. 1990;  27 279-284
  • 3 Kröber H-L. Die Beeinflussung der Schuldfähigkeit durch Alkoholkonsum.  Sucht. 2001;  47 341-349
  • 4 Haffner H T, Batra A, Bilzer N. et al . Statistische Annäherung an forensische Rückrechnungswerte für Alkoholiker.  Blutalkohol. 1992;  29 53-61
  • 5 Huckenbeck W, Bonte W. Alkohol. In: Madea B, Brinkmann B, Hrsg Handbuch gerichtliche Medizin (Bd. 2). Berlin; Springer 2003: 377-636
  • 6 Dettling A, Fischer F, Böhler S. et al . Grundlagen der Pharmakokinetik des Ethanols anhand von Atemalkoholkonzentrationen. Teil I: Anflutung und Gipfelkonzentrationen.  Blutalkohol. 2006;  43 257-268
  • 7 Dettling A, Böhler S, Fischer F. et al . Grundlagen der Pharmakokinetik des Ethanols anhand von Atemalkoholkonzentrationen. Teil II: Vergleich der mathematischen Approximation der AAK- und BAK-Kurven in der Eliminationsphase.  Blutalkohol. 2006;  43 376-384
  • 8 Dettling A, Witte S, Skopp G. et al . A Regression Model Applied to Gender-Specific Ethanol Elimination Rates from Blood and Breath Measurements in Non-Alcoholics.  Int J Legal Med. 2009;  123 381-385

Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber

Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Limonenstraße 27

12203 Berlin

Email: hans-ludwig.kroeber@charite.de

Prof. Dr. med. Matthias Graw

Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität

Nußbaumstraße 26

80336 München

Email: Matthias.Graw@med.uni-muenchen.de