Z Geburtshilfe Neonatol 2009; 213(5): 186-193
DOI: 10.1055/s-0029-1224188
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Übelkeit und Erbrechen als evolutionäre Mechanismen der vielschichtigen Anpassungsreaktion an die Schwangerschaft

Eine kulturenvergleichende Untersuchung an 565 ProbandinnenNausea and Vomiting as Evolutionary Mechanisms of the Complex Adaptation Reaction to PregnancyA Cross-Cultural Study of 565 WomenS. Kohl1 , F. Kainer2 , W. Schiefenhövel1
  • 1Max-Planck-Institut, Andechs
  • 2Perinatalzentrum, Klinikum Innenstadt, LMU München
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Publikationsverlauf

eingereicht 01.08.2008

angenommen nach Überbearbeitung 24.02.2009

Publikationsdatum:
23. Oktober 2009 (online)

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Zusammenfassung

Einleitung: Übelkeit und Erbrechen während der Schwangerschaft (nausea and vomiting during pregnancy, NVP) ist ein häufiges und bisher uneinheitlich interpretiertes Phänomen mit hohem Leidensdruck für die Betroffenen. Bemerkenswert sind eine Korrelation mit einem erfolgreicheren Schwangerschaftsausgang und ein enger zeitlicher Zusammenhang mit der Embryogenese. Unser funktionales Konzept, NVP in einem evolutionsbiologischen Kontext als vielschichtige Anpassungsreaktion an die Schwangerschaft zu deuten, soll neue Denkansätze liefern.

Methodik: Wir führten eine kulturenvergleichende Untersuchung an 565 Müttern in Südafrika, Guatemala und Deutschland in Form eines standardisierten retrospektiven Interviews während des Wochenbetts durch.

Ergebnisse: Es zeigte sich kulturübergreifend eine ähnliche Prävalenz und Klinik mit ausgeprägtem subjektivem Leidensdruck bei geringer objektiv erfassbarer Symptomatik. Es fanden sich Hinweise für eine multifaktorielle Ätiologie mit biologischen, psychologischen und soziologischen Einflussfaktoren. Ebenfalls vielschichtig schienen die Auswirkungen von NVP zu sein, die Ernährung, Verhalten, Wahrnehmung, Psyche und Sozialstatus betrafen.

Diskussion und Schlussfolgerung: Unsere und bestehende Forschungsergebnisse stützen die Vorstellung, dass NVP durch die Evolution selektiert wurde, weil es als funktionale Anpassungsreaktion während der vulnerablen frühen Schwangerschaft mehr Nutzen als Schaden bringt. Dafür sprechen die Korrelation mit einer besseren fetalen Prognose, die kulturübergreifend hohe Prävalenz und die eher geringen biologischen Kosten bei relativ hohem subjektivem Leidensdruck. Der adaptative Wert des Syndroms könnte sich ergeben durch Nahrungsumstellung, Zunahme der sozialen Unterstützung, Verhaltensanpassung, früheres Erkennen der Schwangerschaft sowie durch positive Beeinflussung der embryonalen Entwicklung. Um die Funktionalität von NVP zu verstehen, bedarf es der Betrachtung des gesamten Symptomenkomplexes mit seinen psychisch-emotionalen Auswirkungen sowie der Einordnung in den Kontext eines „Environment of Evolutionary Adaptedness” (EEA).

Abstract

Introduction: Nausea and vomiting during pregnancy (NVP) constitute a frequent and often highly unpleasant syndrome during the sensitive period of early pregnancy, which has been intensively investigated. However, many questions remain unanswered, particularly the counterintuitive association with a better pregnancy outcome. Under these circumstances our functional concept to interpret NVP as an evolutionary mechanism of complex adaptation to early pregnancy seems promising.

Method: In this cross-cultural study data were collected from 565 mothers, who had given birth recently in South Africa, Guatemala and Germany, using a standardised questionnaire interview.

Results: There was a cross-culturally similar prevalence and clinical presentation of NVP, showing a high degree of subjective suffering. We found evidence supporting a multifactoral aetiology of biological, psychological and sociological factors. Likewise, NVP seems to have multiple effects, concerning nutrition, behaviour, perception, psychology and social support.

Discussion and Conclusion: Our new and previously existing data support the idea that NVP has been selected for by evolution, as a functional adaptation to vulnerable early pregnancy, which benefits mother and child. This assumption is supported by the correlation of NVP with a better foetal prognosis, the cross-culturally high prevalence and a favorable relation of low biological costs versus high effects. The benefit of NVP could be realised by nutritional change, increased social support, more passive and careful behaviour, earlier recognition of pregnancy and a positive influence on foetal development. To understand the functionality of NVP, one needs to consider the complex somato-psychoemotional interplay in the context of an environment of evolutionary adaptedness (EEA).

Literatur

1 Die statistischen Angaben der Tabellen sollen einen Eindruck über die Stärke der Assoziation mit NVP vermitteln und sind aus dem Vergleich der Gruppen mit vorliegenden NVP gegenüber fehlenden NVP entstanden. Relatives Risiko: Häufigkeit NVP bei Vorliegen der Variable dividiert durch Häufigkeit NVP bei Nichtvorliegen Attributives Risiko: Häufigkeit NVP bei Vorliegen der genannten Variable minus Häufigkeit NVP bei Nichtvorliegen.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel

Max-Planck-Institute für Ornithologie

Von-der-Tann-Straße 3

82346 Andechs

eMail: schiefen@orn.mpg.de