Via medici 2009; 14(3): 7
DOI: 10.1055/s-0029-1225383

Hätten Sie’s gewusst? – Wie entsteht Kurzsichtigkeit?

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Publikationsdatum:
18. Juni 2009 (online)

Etwa ein Drittel der Bevölkerung in Industrienationen ist kurzsichtig. Besonders häufig trifft es Akademiker. In den Großstädten Asiens leiden über 90% der Studenten an Myopie. Ist das häufige Schmökern in Lehrbüchern schuld, oder sind es doch die Gene? Wir haben Prof. Frank Schaeffel gefragt, Leiter der Sektion für Neurobiologie des Auges an der Uni Tübingen.

Sind es die Gene oder die Umwelt, die einen kurzsichtig machen?

Prof. Schaeffel: Beides. Studien aus den USA, Australien und Singapur zeigen, dass Kinder, die sich mindestens zehn Stunden pro Woche im Freien aufhalten, seltener kurzsichtig werden als ihre Altersgenossen. Zudem weiß man, dass häufige Naharbeit, wie zum Beispiel Lesen, mit Myopie korreliert ist. Eine wesentliche Rolle spielen aber auch die Gene. Sind die Eltern kurzsichtig, ist die Wahrscheinlichkeit auch bei den Kindern erhöht: Bei einem kurzsichtigen Elternteil besteht ein etwa dreifaches Risiko, bei zwei betroffenen Elternteilen ein sechsfaches Risiko. Bisher hat man 15 Abschnitte auf Chromosomen entdeckt, in denen Gene liegen, die mit Myopie korreliert sind. Weil in diesen Arealen aber oft mehr als hundert Gene sitzen, konnte bis jetzt keines identifiziert werden, das für ein verstärktes Längenwachstum des Auges und damit für die Kurzsichtigkeit prädestiniert.

Wie entscheidet das Auge, ob es wachsen soll oder nicht?

Prof. Schaeffel: Die Wachstumssteuerung erfolgt über die Bildverarbeitung in der Retina. Von dort gehen biochemische Signale zur Lederhaut, die dann ihre Form verändert. Klar ist, dass diese Signale durch die Lage der scharfen Abbildung gesteuert werden: Liegt die Schärfeebene vor der Netzhaut, ergibt dies ein anderes Signal, als wenn sie hinter der Netzhaut liegt. Wie genau die Retina diese wachstumsbeeinflussenden Faktoren generiert und wie die gesamte Signalkaskade von der Netzhaut bis zur Lederhaut abläuft, wissen wir noch nicht – obwohl einige „Bausteine” inzwischen bekannt sind.

Kann man die Netzhaut durch Brillen dazu bringen, das Auge langsamer wachsen zu lassen?

Prof. Schaeffel: Versuche zeigen, dass bestimmte Brillengläser das Augenwachstum erfolgreich hemmen. Fehlsichtigkeit in der Peripherie, also außerhalb der Stelle des schärfsten Sehens im gelben Fleck in der Mitte des Gesichtsfeldes, ist unerwartet wichtig für die Steuerung des Augenwachstums. Die meisten Brillen erzeugen relative Weitsichtigkeit in der Peripherie. Entsprechend versucht die Netzhaut, diesen Fehler zu korrigieren und das Augenwachstum zu verstärken. Man experimentiert deshalb jetzt mit Brillengläsern, die in der Peripherie statt Weitsichtigkeit relative Kurzsichtigkeit erzeugen. Da man in der Peripherie sowieso nicht sehr hoch aufgelöst sieht, stört die leichte Unschärfe nicht.

Kann das Wachstum der Lederhaut mit Medikamenten beeinflusst werden?

Prof. Schaeffel: Atropin kann das Augenlängenwachstum hemmen. Es muss allerdings täglich angewandt werden und hat störende Nebenwirkungen. In Taiwan werden trotzdem 35 Prozent aller kurzsichtigen Kinder regelmäßig mit Atropin behandelt. Eine verträglichere Alternative wäre da ein Segen und ist Ziel vieler Forschungsarbeiten.

Grübeln Sie über einer Frage, die sich mit keinem Lehrbuch beantworten lässt? Schicken Sie uns Ihre Frage an: via.medici@thieme.de. Die interessantesten Fragen werden hier beantwortet.