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DOI: 10.1055/s-0029-1225537
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Die klinische Visite im Zeichen der Arbeitsverdichtung des Arztes
Publication History
Publication Date:
03 June 2009 (online)
Die ärztliche Visite ist für den Patienten der Höhepunkt eines eintönigen Kliniktages – und gleichzeitig auch der tägliche Höhepunkt des Stationsbetriebs. Unser offiziell immer noch auf Gleichheit aller Kranken basierendes Gesundheitswesen macht dennoch gewisse Unterschiede: Da gibt es die normale Visite des Assistenzarztes, die Visite unter der Ägide eines Oberarztes und die wöchentliche Chefarztvisite, die den Privatpatienten täglich zugute kommt – falls die leitenden Ärzte nicht wieder durch interne Gespräche mit der Verwaltung, mit Arbeitsgruppen für Zertifizierungen und Qualitätsmanagement von ihrer eigentlich ärztlichen Arbeit abgehalten werden.
Für den Patienten ist die Visite oft die einzige Chance, seine Beschwerden und Probleme an die ärztliche Adresse loszuwerden und Genaueres über die weiteren Therapiepläne zu erfahren. In der Regel sieht der Patient heute selbst seinen Stationsarzt eher selten, denn der ist vollauf mit der Dokumentation am PC und der DRG–Kodierung, sowie anderen bürokratischen Auflagen beschäftigt. Patientenumfragen zeigen, dass Patienten das Visitengespräch oftmals als sehr enttäuschend erleben. So wird die traditionelle Visite heutzutage als „verhinderter Dialog” zwischen Arzt und Patient bezeichnet.
Historisch betrachtet ist die Visite eigentlich ein Ritual. So mancher erinnert sich vielleicht noch an frühere Zeiten an den Universitätskliniken oder auch in den großen Krankenhäusern, als der Chef noch unangefochtener Alleinherrscher seines Bettenreichs war, ganz im Selbstverständnis eines Romantitels aus der Feder des Chirurgen Hans Killian: „Hinter uns steht nur der Herrgott”! Heute stehen Leitlinien, DRGs, Fallpfade mit dem Druck einer „Prozessoptimierung” und das Management hinter den Klinikchefs. Und das ist vielleicht eine bessere Lösung als der Herrgott als alleinige Gewissensinstanz.
Die Visite nimmt sich heute auch bescheidener aus, was durchaus wieder eine Chance für einen guten Patientenkontakt sein kann. Die frühere große Visite mit einem Dutzend Personen in weißen Kitteln war eine streng hierarchisch angeordnete Prozession mit dem Chef an der Spitze, umringt von Oberärzten und Stationsarzt, Stationsschwester, Assistenten und Studenten, die am Patientenbett ein beeindruckendes Fachgespräch führten, von dem der Patient nur leider nicht sehr viel verstand. Der verantwortliche Stationsarzt berichtete aus dem Krankenblatt, der Chef nickte, kommentierte, gab neue Therapierichtlinien vor – und richtete an den Patienten zum Schluss noch eine kurze Frage nach dem Befinden, eine vage Erklärung oder ein paar aufmunternde Worte, wobei der Patient den obligatorischen Zeitdruck des Chefarztes schon an dessen Körpersprache ablesen konnte. Und das war's dann. Ein wirkliches Gespräch mit dem Patienten war unter einer solchen Dramaturgie so gut wie unmöglich.
Diese Art der großen Visite hat heute Seltenheitswert. Ich mag es dahingestellt lassen, ob dies der Einsicht in dem eigentlichen Sinn der ärztlichen Visite zuzurechnen ist oder den ökonomischen Zwängen, die einen solchen personellen Aufwand einfach nicht mehr erlauben.
Die Visite heute: Der Stationsarzt ist meist alleine, selten in Begleitung von Oberarzt oder Chefarzt. Auch die verantwortliche Stationsschwester ist leider nur selten bei der Visite präsent. Das Team berät außerhalb des Zimmers, wie es denn um den Patienten steht, wie die Therapie angeschlagen hat und was weiter zu unternehmen ist. Dann betritt die reduzierte Mannschaft das Zimmer. Man erkundigt sich nach dem Befinden des Patienten, erläutert den weiteren diagnostischen und therapeutischen Ablauf. Alles läuft sehr zielorientiert unter dem Druck von DRGs, Mindestverweildauer und Effizienz ab. Es bleibt wenig Zeit für persönliche Zuwendung, Konstanz in der persönlichen Verantwortung für den Patienten und eine für den psychologischen Heilverlauf persönliche Beziehung zum Patienten.
Im Medizinstudium lernt man alles Mögliche. Das Arzt–Patientengespräch, das Visitengespräch – das alles bleibt auf der Strecke. Gerät man als Patient doch noch an Ärzte, die diese Kunst beherrschen, so ist man zu beglückwünschen; meistens lässt die Kommunikation am Patientenbett aber zu wünschen übrig. Das ist schade, denn die Visite ist einer der Bausteine, die Zufriedenheit beim Patienten generieren.
Normalerweise kümmert sich das Pflegepersonal um den Patienten; Ärzte sind den ganzen Tag über mehr oder weniger unsichtbar. Umso wichtiger ist dieser kurze Kontakt der Visite zum Chefarzt oder Oberarzt für den Patienten. Visiten dürfen keine anamnestischen Kurzverhöre mit Einschüchterungseffekt sein. Der Patient erwartet dabei auch eine gewisse Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit. Das ist sicherlich nicht leicht zu organisieren, wenn man bedenkt, dass Chefärzte heute 50–60 % ihrer Arbeitszeit nicht mehr den Patienten widmen können. Ökonomie und Management nehmen demnach so viel Zeit in Anspruch, dass für den Kontakt mit den Patienten nur noch ein Minimum übrig bleibt. Doch schlecht organisierte, unpünktliche Visiten beeinträchtigen die Patientenzufriedenheit, nagen am Ansehen der Klinik und kosten letztendlich viel Geld. Die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes hat darüber hinaus den Wechsel auf Station erhöht und erschwert die personelle Konstanz und damit adäquate Weitergabe der Patientendaten auf Stationen.
Eine Visite braucht Struktur. An ihrer zeitlichen Begrenztheit lässt sich nichts ändern; umso wichtiger ist es, die knappe Zeit, die für die Kommunikation bleibt, intensiv zu nutzen. Und man muss auch wissen, was mit dem Patienten jeweils kommuniziert werden soll. Steht ein diagnostischer oder therapeutischer Eingriff bevor, so hat der Patient Anspruch auf eine umfassende, verständliche Erläuterung. Für den Arzt ist das Routine, für den Patienten aber eine Ausnahmesituation, die ihm Angst macht. Der Arzt muss die richtigen Worte finden, dem Patienten den Eindruck vermitteln, dass er sich in ihn einfühlen kann. Keinesfalls darf er ihn hilflos und verängstigt zurücklassen.
Und ganz am Schluss die Entlassung. Das Entlassungsgespräch wird meistens vernachlässigt, denn zu diesem Zeitpunkt hat der Patient seinen Patientenstatus im Bewusstsein des Arztes schon verloren. Dabei müssen den Patienten genaue Vorgaben für das Alltagsleben, für den Lebensstil und zur Prävention seiner gesundheitlichen Probleme gemacht werden.
Eigentlich müsste jede Klinik ein eigenes Regelwerk für die Visite – im Sinne einer hausinternen Leitlinie – zusammenstellen und das Kommunikationsprozedere regelmäßig mit ihren Ärzten trainieren. Dies fällt unter das Etikett „hausinternes Marketing”. Nach außen hin kann man alles Mögliche kommunizieren – doch wenn einige wesentliche Dinge im Stationsablauf schlecht organisiert sind, nimmt das Image der Klinik bei den Menschen in ihrem Einzugsbereich langsam, aber nachhaltig Schaden. Auch die Zuweiser bekommen das zu hören; und die wollen ihre Patienten schließlich dorthin schicken, wo sie gut behandelt werden – nicht nur in medizinischer Hinsicht. Hier ein paar Grundsätze, die jeder Teilnehmer der Visite sich einprägen sollte:
Am Krankenbett sprechen wir mit dem Patienten, nicht mit den Kollegen über ihn. Andernfalls demonstrieren wir ihm, dass es uns eigentlich nicht um den Menschen geht, sondern um einen Fall – womöglich einen wissenschaftlich besonders attraktiven.
Wir sollten dem Patienten die Wahrheit sagen, also nicht die Schwere der Krankheit, die Unannehmlichkeiten der Therapie verleugnen. Was wir dem Patienten sagen, muss stimmen.
Ärzten mag es häufig schwerfallen, medizinische Zusammenhänge in eine laienverständliche Alltagssprache zu kleiden. Doch es geht. Nicht jeder versteht unsere lateinischen Fachsimpeleien. Also hüten wir uns davor, mit gelehrter Sprache Barrieren aufzurichten. Wir haben es nicht nötig, dem Patienten unsere medizinische Kompetenz zu vermitteln, indem wir ihm signalisieren, dass er uns Ärzte eben einfach nicht verstehen kann. Vielleicht sollten wir den Patienten auch einfach nur reden lassen, ihn zum Reden auffordern – und ihm zuhören. Und schließlich: Wirkungsvoller als jede medizinische Therapie ist Vertrauen, das wir besonders auch bei der Visite aufbauen können. Wie gut tut es dem Kranken, wenn wir seine Hand länger halten, als das Händeschütteln es erfordert. Schauen wir dem Patienten beim Gespräch in die Augen und nicht ins Krankenblatt. Kurzum: Betrachten wir unseren Patienten als Menschen, der sich in einer besonders verletzlichen Phase befindet. Bezeugen wir ihm Achtung und Respekt. Wir sind für ihn da, nicht er für uns. Und verlieren wir auch nicht die Angehörigen des Patienten aus unserem Blick. Die klinische Visite ist viel zu wichtig, sie ist ureigene ärztliche Aufgabe, als dass sie unter dem Druck von Verkürzung der Verweildauer, Abarbeiten von Serviceleistungen für fachärztliche Einweisungen und ökonomischen Vorgaben ihren hohen Stellenwert verliert.