Gesundheitswesen 2009; 71(8/09): 447-448
DOI: 10.1055/s-0029-1234067
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ewiges Leben

M. Wildner
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Publication Date:
20 August 2009 (online)

Ist die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren gestiegen oder gesunken?” Eine angesichts des verfügbaren und bekannten Wissens einigermaßen überraschende Eingangsfrage. Schaubilder zeigen, dass die Lebenserwartung bei Geburt über die letzten 100 Jahre in etwa linear ansteigt. Sie hat sich in dieser Zeitspanne verdoppelt, auf derzeit 82 Jahre bei Frauen und 76 Jahre bei Männern. Tendenz weiter steigend: um etwa 1/4 Jahr pro Kalenderjahr. Auf das Achilles-und-die-Schildkröte-Paradox sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Zenon von Elea (490–430 v. Chr.) legt dar, dass selbst der wegen seiner Sportlichkeit gerühmte Achilles im Wettlauf eine Schildkröte nicht überholen kann, wenn diese einen Vorsprung hat. Sobald er an die Stelle gelangt ist, an welcher die Schildkröte gestartet ist, ist diese schon ein Stück weiter, gleiches gilt beim nächsten Versuch usw. So könnte es sich auch bei der Lebenserwartung verhalten: noch während des Lesens dieses Beitrages – 10 min – ist Ihre Lebenserwartung schon wieder um gute 2 min gestiegen. Erfreuliche Aussichten auf ewiges Leben!

Für uns alle? Innerhalb Deutschlands liegt die Lebenserwartung im Süden und Südwesten am höchsten, in den neuen Ländern vergleichsweise niedrigerer. Allerdings ist der bei der deutschen Wiedervereinigung noch erhebliche Unterschied zu Gunsten der alten Länder von mehreren Jahren (2,8 Jahre bei Frauen, 3,5 Jahre bei Männern) bei den Frauen inzwischen auf etwa 4 Monate zurückgegangen, bei Männern auf etwa 1œ Jahre [3]. Diese Effekte sind in anderen Staaten des ehemaligen sozialistischen Osteuropas bei weitem nicht zu beobachten. In verschiedenen GUS-Staaten war während des schwierigen Übergangs insbesondere zu radikal marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen ein deutlicher Rückgang der Lebenserwartung zu verzeichnen [4].

Mögliche Faktoren für die glücklichere Situation in den Beitrittsgebieten bei der deutschen Wiedervereinigung? Vermutet werden vier große Faktoren: eine Verbesserung des Gesundheitssystems, verbesserte ökonomische Bedingungen für breite Bevölkerungsschichten im Modell der sozialen Marktwirtschaft, eine Verminderung des psychosozialen Stresses in einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung sowie positive Veränderungen des Lebensstils, insbesondere bezogen auf den Alkoholkonsum [3].

Welche Bedeutung kommt heute den Lebensstilfaktoren für die Lebenserwartung zu? Und welche Lebensstilfaktoren sind es? Dies hängt sowohl von dem spezifischen Risiko eines Verhaltens ab als auch von dessen Verbreitung in der Bevölkerung. Aus Sicht der Bevölkerungsgesundheit kommt Nicht-Rauchen, ausreichend Bewegung, verantwortlichem Alkoholkonsum und gesunder Ernährung größte Bedeutung zu und übersetzt sich z. B. in 14 Jahre Unterschied in der Lebenserwartung [5]. Andere Arbeitsgruppen beziffern den Verlust der ferneren Lebenserwartung im Alter von 50 Jahren bei starkem Alkoholkonsum, starkem Tabakkonsum oder Diabetes mellitus sogar auf jeweils über 20 Jahre. Erfolgreiche therapeutische Interventionen haben demgegenüber eine vergleichsweise geringe Auswirkung auf die Lebenserwartung, die eher im Bereich von Monaten als von Jahren liegt [6].

Gradienten der Lebenserwartung sind nicht nur innerhalb Deutschlands auf Ebene der Länder zu beobachten, sondern auch zwischen den Staaten auf europäischer Ebene und weltweit. Von Kleinstaaten abgesehen hat weltweit derzeit Japan die höchste Lebenserwartung, innerhalb Europas die Schweiz, Schweden, Frankreich und Spanien [7].

Fehlt noch etwas? Natürlich – gerne diskutiert werden die Geschlechterunterschiede: Bei der Lebenserwartung ein gar nicht so kleiner Unterschied. Die Lebenserwartung der Frauen übersteigt die der Männer um mehrere Jahre. Dabei werden etwa 105 Jungen auf 100 Mädchen geboren. Offenbar eine Vorsorge der Natur: Männer haben in allen Altersgruppen eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit. Vorgeburtlich bei Spontangeburten, während der Geburt bei den Totgeborenen, im Verlauf des weiteren Lebens dann auch bei den vorzeitigen Sterbefällen unter 65 Jahren aufgrund von Unfällen, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs [8].

Bei den Ursachen für das höhere Sterberisiko der Männer stehen riskantere Lebensweisen im Vordergrund: im Straßenverkehr sowie in Sport und Freizeit, bei den Rauch-, Trink- und Ernährungsgewohnheiten, bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen. Erklärungsansätze hierfür gehen wiederum von einer biologischen und sozialen Vermittlung aus. Abgrenzungen von Frauenrollen, männliche Überlegenheitsgefühle sowie traditionelle Männerrollen im Sinne von Unabhängigkeit und Sich-Durchsetzen sind diskutierte bio-psycho-soziale Vermittlungspfade [10] [11]. Bei einem Vergleich der Lebenserwartungen von Mitgliedern beschaulicher religiöser Orden verringerte sich dem gegenüber die höhere Lebenserwartung bei Frauen auf 1–2 Jahre [12]. Dass in Deutschland der Männeranteil an der Bevölkerung dennoch bis zum Ende des Berufslebens höher ist als der Frauenanteil, ist eine Folge der Zuzüge.

Die Unterschiede der Lebenserwartung zwischen den nach sozioökonomischen Status in Fünfteln angeordneten Bevölkerungsschichten erstreckt sich über mehrere Jahre – die „Dritte Welt” mitten unter uns? Bei kleinräumiger regionaler Analyse finden sich Unterschiede der Lebenserwartung auch innerhalb einzelner Bundesländer, sogar in relevantem Ausmaß innerhalb von Städten [1]. Diese sind unter dem Aspekt der gesundheitlichen Chancengleichheit auch von erheblichem gesellschaftlichem Interesse [9].

Zweifelsohne kommt dem Zugang zum jeweiligen Gesundheitssystem und dessen Leistungsfähigkeit große Bedeutung zu – ein Aspekt, der in Deutschland vergleichsweise positiv bewertet werden darf. Allerdings sind darüber hinaus auch in Deutschland komplexe sozioökonomisch vermittelte Ursachenketten und -netze – Bildung, Einkommen, Infrastruktur – von großem Einfluss [13]. Fachleute im Feld lernen zunehmend, bei der Ursachendiskussion in komplementären Kategorien von sich ergänzenden, miteinander verflochtenen und sich gegenseitig vermittelnden Faktoren zu denken [14] [15]. Integrierte Politikansätze, welche gesundheitliche Folgen in allen Politikbereichen berücksichtigen, sind rationale Forderungen aus dieser Einsicht. Städtebau, Warenangebote und Preispolitik, schulische Lehrpläne und bewegungsfreundliche schulische Architektur, gesellschaftliche Werte, soziale Kohärenz und empfundene gesellschaftliche Fairness, Bildungs- und Einkommenschancen haben alle erheblich mit Gesundheit zu tun.

Solchen verflochtenen Ursachenketten gehen die Beiträge in diesem Heft nach: der Validität von Gesundheitsstudien, Gewalt und Agression in Pflege und Betreuung, integrierten Gesundheitsversorgungsprogrammen, der Rolle von Angehörigen bei medizinischen Entscheidungen, HbA1c-Kartografierung zum Monitoring von Patienten mit Diabetes mellitus. Darüber hinaus stellen wir Ihnen als „Extra” in diesem Heft das Dritte Memorandum des Deutschen Netzwerkes für Versorgungsforschung vor, neben Teil 3 der Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung bei chronischen nicht-malignen Leber- und Gallenwegskrankheiten.

Sie wollen die Antwort auf die Eingangsfrage wissen, nämlich ob die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren gestiegen ist? Der kluge Fragesteller hat sie mit einem Lächeln verneint. Die Lebenserwartung sei gefallen, war die Antwort: wegen des Verlustes des Glaubens an ein ewiges Leben in breiten Bevölkerungsschichten.

Literatur

  • 1 Kuhn 1  J, Zirngibl 1  A, Wildner 1  M. Daten zur Lebenserwartung in Bayern. Gesundheitsmonitor Bayern 03/2006. LGL, Erlangen 2006 http://www.lgl.bayern.de/publikationen/doc/gesundheitsmonitor_3_2006.pdf [Zugriff am 22.03.2009]
  • 2 Statistisches Bundesamt . Sterbetafel 2005/2007. http://www.destatis.de , [Zugriff am 22.03.2009]
  • 3 Diehl K. Mögliche Faktoren für die rasche Reduktion der ostdeutschen Übersterblichkeit nach der Wiedervereinigung. Warum leben Ostdeutsche seit der Wiedervereinigung länger?.  Z f Bevölkerungswiss. 2008;  33 89-110
  • 4 Stuckler D, King L, McKee M. Mass privatisation and the post-communist mortality crisis: a cross-national analysis.  Lancet. 2008;  373 399-407
  • 5 Khaw KT, Wareham N, Bingham S. et al . Combined impact of health behaviours and mortality in men and women: the EPIC-Norfolk Prospective Population Study.  PloS Medicine. 2008;  5 ((1)) e12
  • 6 Doblhammer G, Muth E, Kruse A. Lebenserwartung in Deutschland: Trends, Prognose, Risikofaktoren und der Einfluss ausgewählter Medizininnovationen.  Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Rostock. 2008;  http://www.rostockerzentrum.de/aktuelles/081118/ , [Zugriff am 22.03.2009]
  • 7 United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division. World Population Prospects: The 2006 Revision, Highlights, Working Paper No. ESA/P/WP.202. United Nations, Geneva 2007 Table A.16 http://www.un.org/esa/population/publications/wpp2006/wpp2006_highlights_rev.pdf [Zugriff am 22.03.2009]
  • 8 Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt: Gesundheit in Deutschland. Robert Koch-Institut, Berlin 2006
  • 9 Europäische Gesundheitsministerkonferenz der Weltgesundheitsorganisation Europa .Die Charta von Tallinn: Gesundheitssysteme für Gesundheit und Wohlstand. Tallinn, Estonia 27. Juni 2008 http://www.euro.who.int/document/e91438g.pdf [Zugriff am 02.01.2009]
  • 10 Merbach M, Brähler E, Goldschmidt S. Das riskante Leben das vermeintlich starken Geschlechts: Warum Männer früher sterben.  Biol unserer Zeit. 2008;  6 372-381
  • 11 Sabo D, Gordon DF. Rethinking men's health and illness. In Sabo D, Gordon DF, Hrsg Men's health and illness: Gender, power and the body. Sage Publications, Thousand Oaks, CA S1-S21
  • 12 Luy M. Warum Frauen länger leben – Erkenntnisse aus einem Vergleich von Kloster- und Allgemeinbevölkerung, Materialien zur Bevölkerungswissenschaft 106. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden 2002 http://www.klosterstudie.de [Zugriff am 22.03.2009]
  • 13 Neumann NU, Bellinger M, Frasch K. Mühsamer Weg zum richtigen Lebensstil.  Dt Ärzteblatt. 2008;  105 ((51–52)) A2750-A2752
  • 14 Mielck A. Erklärungsmodelle regionaler Gesundheitsunterschiede. Fachinformation Gesundheit. LGL, Erlangen 2007 http://www.lgl.bayern.de/publikationen/doc/gesundheit_regional_theorie.pdf [Zugriff am 22.03.2009]
  • 15 Commission on Social Determinants of Health .Closing the gap in a generation: Health equity through action on the social determinants of health. Final report of the Commission on Social Determinants of Health. World Health Organization, Geneva 2008

Hinweis:
Geänderte Version vom 23.9.2009.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für

Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

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85762 Oberschleißheim

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