RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-0029-1238165
Zur sozialpsychologischen Situation der Träger von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten im Dritten Reich
In keiner historischen Epoche waren Gesundheit, sozialer Status und Leben der Spaltträger durch staatliche Eingriffe so gefährdet wie zur Zeit der Naziherrschaft in Deutschland. Bereits kurz nach der Machtübernahme wurde am 14. Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) erlassen. Das Gesetz führte die Zwangssterilisation bei bestimmten angeborenen Erkrankungen im Dritten Reich ein und regelte die Meldepflicht, Entscheidungsfindung und Durchführungsbestimmungen. Es lieferte die juristische Grundlage für jene Politik der Ausmerze von lebensunwerten Leben und Auslese von hochwertigem Erbgut, die später zum Euthanasieprogramm führte und schließlich im Grauen der Shoa in den Vernichtungslagern endete. Damit gerieten auch die Träger von LKG-Spalten in eine bedrohliche Situation. Bereits vor 1933 hatten Autoren wie K. H. Schröder eugenische Maßnahmen bei Spaltträgern vorgeschlagen. Diese Position wurde durch eine Dissertation von Josef Mengele (später KZ-Arzt in Auschwitz) unterstützt. Er betonte einen hypothetischen genetischen Zusammenhang zwischen Geisteskrankheiten und LKG-Spalten und ordnete diese Patientengruppe damit in gefährliche Nähe der zahlenmäßig größten Opfergruppe des GzVeN, dem angeborenen Schwachsinn ein. Zwischen 1934 und 1944 wurden über 350 000 Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen der Zwangssterilisierung unterworfen. Die Anzahl der tatsächlich zwangssterilisierten Spaltträger ist nicht mehr feststellbar. Zweifellos unterlagen sie als plötzlich legal Verfehmte einem großen seelischen Druck. Gegenüber den Willkürentscheidungen der Erbgesundheits- und Erbgesundheitsobergerichte standen den Betroffenen so gut wie keine Rechtsmittel zu Verfügung. Darüber hinaus wurden ihre Ausbildungs- und Berufschancen durch diskriminierende Verordnungen beschnitten.Trotz der offiziellen Rassenpolitik setzten sich Kieferchirurgen wie Rosenthal, Axhausen und der Chirurg Uebermuth für die soziale Integration und Gleichheit dieser Menschen in ihren Veröffentlichungen ein.