Allgemeine Homöopathische Zeitung 2010; 255(2): 12
DOI: 10.1055/s-0029-1242579
Spektrum
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Karl-Heinz Gebhardt

Das Interview führte Matthias Wischner
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Publication Date:
24 March 2010 (online)

Wann haben Sie das Organon kennengelernt? Als Student Ende der 40er-Jahre in Halle. Mit 8 Jahren litt ich an einer schweren Lungenentzündung, der Hausarzt hatte mich bereits aufgegeben: „Das Kind stirbt”. Meine Mutter ging dann zu einem Heilpraktiker, der homöopathisch arbeitete. Er gab mir ein Mittel und sagte: „Wenn die Zungenspitze heute Abend noch belegt ist, stirbt er. Wenn nicht, kommt er durch.” Am Abend war die Zungenspitze frei, und ich kam durch. Als Student habe ich mich dann für die Methode interessiert, die mir als Kind das Leben gerettet hat. Ich war fasziniert von der Arndt-Schulz-Regel. Ich hatte auch Glück, denn die Professoren an der Universität in Halle waren der Homöopathie gegenüber sehr objektiv eingestellt. 1955 fuhr ich als junger Assistenzarzt mit 2 Kollegen von Halle nach Stuttgart zum Hahnemann-Jubiläums-Ligakongress. Damals war das Robert-Bosch-Krankenhaus noch ein homöopathisches Krankenhaus, durch das uns Leeser führte. Alle Größen der Homöopathie waren anwesend, wie W. Gutman aus New York, A. Stiegele, H. Rabe, J. Mezger. Wie war die erste Lektüre für Sie? Beim 1. Mal war die Sprache etwas altertümlich, sodass ich mich einlesen musste. Aber abgesehen von ein paar Wörtern, die man heute nicht mehr benutzt, kann man das Buch gut lesen. V.a. die Paragrafen zur Anamnese sind gut verständlich und bis heute gültig. Einer meiner klinischen Lehrer hat gesagt, dass durch eine gute Anamnese und gründliche klinische Untersuchung 90 % aller Diagnosen gestellt werden können. Hat sich Ihr Verhältnis zum Organon im Laufe der Jahre verändert? Ich habe im Laufe der Jahre immer wieder ins Organon geschaut, auch für politische Diskussionen, die ich als Vorsitzender des DZVhÄ führen musste. Da ist es gut, „ad fontes”, also zu den Quellen zu gehen. Hahnemann bietet im Organon klare Anweisungen und schildert Fakten, auf die ich verweisen konnte. Dabei muss man beachten, dass Hahnemann im Organon eine Entwicklung durchgemacht hat, von der 1. bis zur 6. Auflage. Man erkennt, wie sehr er um die Erkenntnis gerungen hat und dass z. B. die Entwicklung der Q-Potenzen nicht zufällig, sondern geradezu zwangsläufig geschah. Welche Rolle spielt das Organon in der heutigen Homöopathie? Eine wichtige! Hahnemann hat ja bereits darauf hingewiesen, dass die psychischen Symptome führend sein müssen, d. h., wenn klare psychische Symptome da sind, soll man sich darauf stützen. Darüber hinaus ist das Organon eine Fundgrube für den heutigen Arzt. Die meisten Ärzte nutzen aber leider gar nicht die Fülle der dort gelehrten Möglichkeiten, den Organismus naturgemäß zu heilen. Hahnemann war einer der ersten Ärzte, der die Lebensordnung umfassend berücksichtigt hat, von der Ernährung bis hin zum Verhalten. Darauf habe ich immer sehr viel Wert gelegt, indem ich beispielsweise die Diätküche einer Klinik, in der ich damals arbeitete, geleitet habe. Ich erinnere auch an die kalten Güsse, die Hahnemann lange vor Kneipp empfiehlt, und an den prophylaktischen Gedanken in § 4, dass der Arzt ein „Gesundheits-Erhalter” sein soll. Haben Sie eine Lieblingsstelle? Ja, die Paragrafen, in denen Hahnemann die Anamnese beschreibt (§§ 83–104). Mit welchen Aspekten des Organons haben Sie Schwierigkeiten? Beim Mesmerismus, da bin ich skeptisch. Der sagt uns heute nicht mehr viel. Ich halte es zwar für möglich, dass es Menschen gibt, die diese heilenden Fähigkeiten besitzen, aber die sind sicherlich selten. Ich muss allerdings einschränkend hinzufügen, dass ich selber keine Erfahrungen mit dem Mesmerismus besitze. Auch die Psora-Lehre ist ein Streitpunkt, der sich bis heute durch die Homöopathie zieht. Er beruht zum Teil auf Missverständnissen, an denen Hahnemann nicht unschuldig ist. Er zieht in seinen Aussagen zur Psora keine scharfe Trennung zwischen der Krankheit und der Reaktion des Organismus darauf. Andererseits war Hahnemann in diesem Punkt seiner Zeit weit voraus, denn heute ist klar, dass die Erbanlagen eine wichtige Rolle für die Krankheitsempfänglichkeit spielen, auch wenn das für viele noch schwer vorstellbar ist. Bitte vollenden Sie den Satz: Ohne Hahnemanns Organon … … kann man keine Homöopathie betreiben.

Dr. med. Karl-Heinz Gebhardt

Bahnhofplatz 8

76137 Karlsruhe