Allgemeine Homöopathische Zeitung 2010; 255(4): 16
DOI: 10.1055/s-0029-1242625
Spektrum
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Michael Teut

Das Interview führte Matthias Wischner
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. Juli 2010 (online)

Wann haben Sie das Organon kennengelernt?

Das war 1989, da sah ich das Organon bei einer befreundeten Ärztin im Regal stehen. Ich fand es sehr „deutsch”, mit den vielen Paragrafen, und habe es gleich wieder zurückgestellt. Stattdessen habe ich dann „Die wissenschaftliche Homöopathie” von Vithoulkas[1] in 2 Tagen verschlungen.

Wie war die erste Lektüre für Sie?

Es hat noch bis etwa 1993/1994 gedauert, bis ich das Organon zum ersten Mal komplett gelesen habe. Ich studierte damals in Göttingen, wo Dr. Kurt-Hermann Illing (1925–2008) aus Kassel Vorlesungen hielt. Illing war einer der großen Organon-Exegeten. Bei meiner ersten Lektüre schwankten meine Empfindungen zwischen unglaublich langweilig und außerordentlich spannend. Es hat fast 2 Monate gedauert, bis ich das Buch durchgelesen hatte. Es war einfach zu schwerfällig formuliert.

Hat sich Ihr Verhältnis zum Organon im Laufe der Jahre verändert?

Ja. Durch den Organon-Kommentar[2], die Überarbeitung von Josef M. Schmidt[3] und die gute Zusammenfassung von Julian Winston[4] habe ich das Organon inzwischen sehr schätzen gelernt. Das hat lange gedauert, aber das Buch ist nun einmal, wenn ich das so sagen darf, unsexy geschrieben.

Heute halte ich das Organon für einen guten Basistext zur Homöopathie. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele klinische Beobachtungen und Regeln schon bei Hahnemann zu finden sind. Deswegen basiert auch unser Kursbuch[5] auf dem Organon, wobei Hahnemann und das, was er in seinen Hauptwerken lehrt, durchaus historisch-kritisch betrachtet werden. Das Kursbuch ist ein Versuch, das Organon zu modernisieren, seinen Inhalt aus der heutigen Perspektive darzustellen.

Welche Rolle spielt das Organon in der heutigen Homöopathie?

Das Organon ist noch immer für alle Schulen der wichtigste Basistext, in dem die Grundregeln der Homöopathie gelehrt werden. Hier finden sich noch immer viele gute Anregungen!

Gleichzeitig ist das Organon aber auch die Ursache für viele Dispute innerhalb der Homöopathie, weil aus verschiedenen Ausgaben unterschiedliche Philosophien ableitbar sind.

Haben Sie eine Lieblingsstelle?

Ja, die Paragrafen zu den einseitigen Krankheiten (§§ 172–184). Diese Paragrafen enthalten Goldkörner für die Behandlung komplizierter chronischer Fälle, mit denen ich es in der Charité-Ambulanz überwiegend zu tun habe.

Mit welchen Aspekten des Organons haben Sie Schwierigkeiten?

Mit der Miasmenlehre. Diese ist schwierig in die heutige Zeit zu übersetzen, und es ist fraglich, ob es so etwas wie Miasmen in Hahnemanns Sinn überhaupt gibt, und wenn ja, welche Relevanz das für die heutige Zeit hat.

Hahnemanns Grundidee halte ich dabei jedoch gar nicht für schlecht. Er lehrt, dass man zur Behandlung bestimmter Krankheitsprozesse typische Mittel benötigt – ein sehr pragmatisches, beinahe schulmedizinisches Vorgehen. Für die Umsetzung dieser Idee braucht man jedoch Hahnemanns Miasmenlehre nicht.

Gibt es noch eine Frage zum Organon, auf die Sie gerne geantwortet hätten?

Wie sähe das Organon aus, wenn Hahnemann heute leben würde? Wenn Konzepte und Terminologie unserer heutigen Zeit entnommen wären? Wie läse sich das? Auf welche Erkenntnisse würde Hahnemann zurückgreifen? Welche Rolle würden Pharmazie, Pharmakologie, Toxikologie, Genetik, Epigenetik, Systemtheorie, Kybernetik etc. spielen? Das sind Fragen, die mich beschäftigen, auf die es aber natürlich keine Antwort gibt.

Bitte vollenden Sie den Satz: Ohne Hahnemanns Organon …

…wäre die Homöopathie nicht die Homöopathie.

Anmerkungen

01 Vithoulkas G. Die wissenschaftliche Homöopathie. Theorie und Praxis naturgesetzlichen Heilens. Göttingen: Burgdorf; 1986

02 Wischner M. Organon-Kommentar. Eine Einführung in Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst. Essen: KVC; 2001

03 Organon der Heilkunst. Neufassung mit Systematik und Glossar. München: Elsevier; 2003

04 http://julianwinston.com/archives/articles/winston_organon_outline.php

05 Teut M, Dahler J, Lucae C, Koch U. Kursbuch Homöopathie. München: Elsevier; 2008

Dr. Michael Teut

Charité Ambulanz für Prävention und
Integrative Medizin
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und
Gesundheitsökonomie
Charité Universitätsmedizin Berlin

Luisenstr. 57, 10117 Berlin

eMail: michael.teut@charite.de

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