Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(51/52): 2619-2624
DOI: 10.1055/s-0029-1243069
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fieberschauer, Pestbeulen und Knochenfraß – Krankheit und Medizin in den Dramen Shakespeares

Fever, carbuncles and hollow bones – disease and medicine in Shakespeare’s playsM. Tschudin
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Publication Date:
09 December 2009 (online)

Dem englischen Dramatiker William Shakespeare (1564–1616)(Abb. [1]) war nichts Menschliches fremd: In seinen von sprachlicher Wucht und poetischer Kraft getragenen Theaterstücken breitet er das ganze Spektrum unserer Gefühle, Konflikte und Leidenschaften aus. Seine profunden Einsichten in seelische Vorgänge, sein geniales Flair für bühnenwirksame Szenen und seine präzisen Kenntnisse in unterschiedlichsten Wissensbereichen verblüffen noch heute. Auch auf dem Gebiet der Krankheiten und der Medizin war Shakespeare erstaunlich gut beschlagen. Ein morbider Streifzug durch die Historien, Komödien und Tragödien des weltberühmten Barden aus Stratford-on-Avon, der während der Regierungszeit von Königin Elizabeth I. und König James I. die Londoner Theaterwelt erschütterte.

Abb. 1 William Shakespeare. Das so genannte Chandos-Porträt zeigt den Dramatiker als genialischen Typen mit wachem, kritischem Blick und geradezu schurkisch anmutendem goldenem Ohrring.

„Mögen doch alle faulen Seuchen des Südwinds, Bauchgrimmen, Brüche, Flüsse, Stein- und Rückenschmerzen, Schlafsucht, Lähmung, triefende Augen, verschleimte Lebern, pfeifende Lungen, Eiterbeulen, Hüftweh, verkalkte Finger, unheilbarer Knochenfraß und das Ehrengeschenk der schäbigsten Krätze fallen und nochmals fallen auf so widernatürliche Entdeckungen!” – Diese wortgewaltige Aufzählung von Krankheiten – wir würden sie heute unter anderem mit den Begriffen Syphilis, Kolik, Schlaganfall, Asthma und Psoriasis bezeichnen – schleudert das zynische Schandmaul Thersites in der Tragikomödie „Troilus und Cressida” Patroklus, dem Freund des Achilleus, an den Kopf. Die Passage belegt auf eindrucksvolle Weise, dass sich Shakespeare in der Welt der menschlichen Leiden auskannte und über ein erstaunliches medizinisches Wissen verfügte, das in seinen Dramen immer wieder aufblitzt, und zwar in höchst anschaulichen und eindringlichen Szenen. Er besaß nicht nur eine ausgeprägte Gabe, in die Tiefen der Seele zu leuchten und die Triebkräfte seiner Protagonisten sicht-, fühl- und durchschaubar zu machen; er war auch außerordentlich brillant, wenn es darum ging, Krankheiten des Körpers zu schildern, beispielsweise Skorbut, Gicht, Epilepsie, Rheumatismus, Syphilis und andere Geißeln, die seine Zeitgenossen heimsuchten.

Shakespeares Werke können – ebenso wie diejenigen anderer Dichter – als Spiegel seiner Epoche verstanden werden und reflektieren die Kultur, die Moral, die Politik, die Religion, die Philosophie sowie die medizinische und chirurgische Praxis seines Zeitalters. Für moderne Theaterbesucher öffnet der Elisabethaner ein Fenster auf menschliche Leiden und ihre Behandlung im England des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts; auf eine Zeit, da Medizin mehr mit Magie und Alchemie als mit Wissenschaft zu tun hatte und eine Armee von Krankheitserregern ihre Opfer in allen Gesellschaftsschichten forderte, sowohl im Königspalast als auch im Bürgerhaus und in der Bauernhütte.

Dr. phil. Marcus Tschudin

Beim Goldenen Löwen 13

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