Gesundheitswesen 2009; 71(12): 797-798
DOI: 10.1055/s-0029-1243181
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leitlinien und Empfehlungen zur Begutachtung von Berufskrankheiten

M. Löffler1 , A. Kranig2 , G. v. Mittelstaedt3
  • 1MDK Hessen
  • 2DGUV
  • 3DGSMP und MDK Hessen
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. Dezember 2009 (online)

Leitlinien sind bewährte Entscheidungshilfen und dienen der Absicherung ärztlichen Handelns, wenngleich es auch einzelne Ärzte geben mag, die hier eine Art Übermaß an Einschränkung der Diagnose- und Therapiefreiheit sehen. Ohne Einschränkung willkommen sind Leitlinien, wenn der Auftrag des ärztlichen Handelns sich auf die Beurteilung und Klärung medizinischer Fragen in Entscheidungsprozessen der Sozialverwaltung oder der Sozialgerichte bezieht. Hier ist es oft so, dass der überwiegend therapeutisch tätige Arzt mit wissenschaftlich-gutachtlichen Anforderungen konfrontiert wird und mit einer Verwaltungsterminologie, in der er nur wenig Übung hat.

Für den Teilbereich Begutachtung von Berufskrankheiten wird die gemeinsame Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich – medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin (DGAUM) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) für die Entwicklung von Leitlinien und Empfehlungen vorgestellt.

Die Frage nach dem Warum ist leicht zu beantworten, denn die Verantwortung der gesetzlichen Unfallversicherungsträger hinsichtlich der Gewinnung von Kenntnissen über Berufskrankheiten, der Durchführung von Berufskrankheitenverfahren und der Entwicklung von Begutachtungsstandards ist ebenso offenkundig wie die Verantwortung der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften für die Leitlinienarbeit unter dem Dach der AWMF.

Über Jahrzehnte hat sich die gesetzliche Unfallversicherung mit Fragen der Begutachtung bei Berufskrankheiten im Rahmen ihrer originären Aufgabe hinsichtlich der Verwaltungs-, Anerkennungs- und Entschädigungspraxis befasst. Dabei wurden auch Pionierarbeiten geleistet. So ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Empfehlungen zu einer Vereinheitlichung der Begutachtungspraxis auf direkte Initiative der Dachverbände der gesetzlichen Unfallversicherungsträger – und hier hauptsächlich des früheren Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften (HVBG) – zurückzuführen sind. Hierbei hat der HVBG seit jeher mit Experten der jeweiligen medizinischen Fachgebiete, insbesondere auch Vertretern der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, zusammengearbeitet.

In Zukunft sollen jetzt Leitlinien unter dem Dach der AWMF auch zu Fragen der Begutachtung von Berufskrankheiten erstellt und mit den Begutachtungsempfehlungen (unter Federführung der DGUV) zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt der Leitlinien beim wissenschaftlichen Kenntnisstand und derjenige der Empfehlungen bei den interdisziplinären (medizinischen und rechtlichen) für die Begutachtungspraxis relevanten Fragen.

Mit diesem Konzept besteht die Möglichkeit, künftig Leitlinien und Empfehlungen auf einen breiten Konsens zu stellen, womit ein höheres Maß an Einvernehmen bei allen Beteiligten zu erwarten ist, bei der gesetzlichen Unfallversicherung, den Gutachtern, den Versicherte, den Gerichten oder anderen Sozialversicherungsträgern, die um Leistungsabgrenzungen bei möglichen Folgen von Berufskrankheiten bemüht sind. Als Voraussetzungen sind allgemein akzeptierte Regeln für eine Gleichbehandlung zu schaffen. Gleichbehandlung bedeutet, dass sich für Versicherte in vergleichbaren Fallkonstellationen übereinstimmende – also „gleiche” – Begutachtungsergebnisse ergeben.

Ermunternd ist, dass es in jüngster Zeit positive Erfahrungen mit Konsensusbemühungen gegeben hat. Als Beispiel können hier die Beurteilungskriterien der aus medizinischen Experten der relevanten Fachrichtungen sowie Vertretern der gesetzlichen Unfallversicherung zusammengesetzten Konsensuskommission zur Berufskrankheit (BK) 2108 gelten, die teilweise sehr kontroverse Begutachtungspositionen zusammengeführt haben. Dort wo Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeräumt werden konnten, wurde dies ausdrücklich dargelegt und die Möglichkeit zu verschiedenen Sichtweisen klar umrissen. Diese Kommission lebte einerseits von der Heterogenität ihrer Zusammensetzung, anderseits aber auch vom Willen auf Einigung im Hinblick auf praktikable Begutachtungsempfehlungen.

In den letzten Jahren haben sich zunehmend auch andere Sozialversicherungsträger, insbesondere gesetzliche Krankenkassen, mit der Thematik der Berufskrankheiten befasst. Als maßgebliches Beispiel seien hier die Handlungsempfehlungen zur Erkennung und Bearbeitung von Berufskrankheiten des AOK Bundesverbandes vom 27.05.2003 genannt. Aber auch andere Krankenkassen haben sich dieser Thematik – überwiegend mit Schaffung eigener Abteilungen – gewidmet und kasseninterne Bearbeitungsempfehlungen entwickelt, die insbesondere auf die mögliche Identifizierung von Berufskrankheiten-Verdachtsfällen aus Krankenkassendaten abzielen.

Aus dieser Perspektive heraus – einer mittlerweile mehr als zehnjährigen Erfahrung – kann eine gemeinsame konzeptionelle Vorgehensweise, wie sie hier beschlossen ist, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bei einer Reihe von Berufskrankheiten gibt es offene Begutachtungsfragen (z. B. berufsbedingte Krebserkrankungen, Berufskrankheiten der Atemwege), die im Interesse sachlich begründeter und einheitlicher Entscheidungen einer Klärung bedürfen. Wenn jetzt Hoffnungen in neue gemeinsam zu erstellende Leitlinien gesetzt werden, dann steht die Aufarbeitung solcher bisher ungelöster Begutachtungsprobleme ganz oben.

Als Beispiel für eine Klärung sei angeführt, dass lange Zeit die sogenannte Moerser Konvention Anwendung fand, die Funktionseinschränkungen bei der Silikose zwingend mit einer Streuungskategorie nach der International Labour Organisation (ILO) verknüpfte. Diese Konvention galt viele Jahre lang als Standard der Begutachtung. Erst die AWMF-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und der DGAUM über Diagnostik und Begutachtung der BK 4101 stellte nach Literaturauswertung fest, dass zwischen radiologisch ermitteltem Streuungsgrad der Silikose und der Schwere der Symptomatik sowie der Funktionsausfälle keine strenge Korrelation besteht. Eine hierauf basierende Begutachtungsempfehlung der DGUV konkretisiert dieses Ergebnis für die Begutachtungspraxis. Für ein solches Vorgehen bietet die hier vorgestellte Gemeinsame Empfehlung einen besser abgestimmten Rahmen. Er wird helfen, Doppelarbeit ebenso zu vermeiden wie die Gefahr widersprüchlicher Aussagen.

Insbesondere bei berufsbedingten Krebserkrankungen bestehen erfahrungsgemäß vielfältige Begutachtungsprobleme im o. g. Sinne. Für die Mehrzahl der durch Asbeststaub verursachten Krebserkrankungen von Lunge und Kehlkopf sowie Mesotheliome, werden derzeit ebenfalls Leitlinien und Empfehlungen vorbereitet. In Anlehnung an die neue Gemeinsame Empfehlung sollen bereits im Vorgriff die Ergebnisse aufeinander abgestimmt werden, damit die Gutachter ein anwendbares und transparentes Instrument an die Hand bekommen..

An dem neuen Konzept ist bestechend, dass hier Kenntnisse und Erfahrungen aus verschiedenen Fachgebieten der medizinischen Wissenschaft, aus der praktischen sozialmedizinischen Begutachtung, aus der Unfallversicherung aber auch aus weiteren Sozialversicherungsbereichen zusammengeführt werden können, und dass man sich dann auf Empfehlungen beziehen kann, die von allen getragen werden und damit einen hohen Grad an Verbindlichkeit haben. Dies schafft ein höheres Maß an Begutachtungssicherheit und ist auch dazu geeignet, für die Zukunft die Zahl der Streitfälle zu vermindern, Sozialgerichtsverfahren abzukürzen oder gar nicht erst entstehen zu lassen,

Zudem sind Denkanstöße aus einer Vielzahl medizinischer Fachrichtungen und Sozialversicherungsbereichen deshalb von hohem Wert, weil sie bisher nicht erkannte Aspekte, z. B. eventuelle Regelungsbedarfe aufdecken können.

In den Grundsätzen der DGUV für die Empfehlung zur Begutachtung bei Berufskrankheiten werden die Kriterienpunkte „Transparenz, Unabhängigkeit und Akzeptanz” genannt. Wenngleich die bisherigen Begutachtungsempfehlungen, die hauptsächlich von den gesetzlichen Unfallversicherungsträgern ausgingen, ein hohes Maß an fachlicher Qualität aufwiesen (genannt seien beispielsweise das Reichenhaller Merkblatt, das Königsteiner Merkblatt oder das Bamberger Merkblatt), so wird es durch die geplante Vorgehensweise noch einen Zuwachs an Akzeptanz geben, der sich über die Unfallversicherungsträger und BK-Gutachter hinaus auch vermehrt auf die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Behörden der Länder, die Sozialgerichtsbarkeit, die verschiedenen anderen Sozialversicherungen, die Verbände und die Rechtsvertreter erstrecken wird.

Es gilt nun die Vetreter der beteiligten Fachgesellschaften und weitere Partner zu koordinieren, so dass es bei konstruktivem Zusammenwirken aller Beteiligten zu den erwarteten Synergieeffekten und zu weniger Reibungsverlusten kommt. Dies sollte mit Inkrafttreten der gemeinsamen Empfehlungen ab 01.01.2010 schnell offensichtlich werden. Mögliche Anfangsprobleme dürfen nicht die Sicht auf das Ziel und die Vorteile der gemeinsamen Konsensfindung verstellen.

Korrespondenzadresse

Dr. M. Löffler

MDK Hessen, Team

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34131 Kassel