Gesundheitswesen 2010; 72(11): 813-823
DOI: 10.1055/s-0029-1243209
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lebenslagen oder Schichten – Welcher Ansatz eignet sich besser zur Beschreibung gesundheitsriskanter Lebenskontexte von Müttern?

Concept of Living Conditions or Social Strata? – Which Approach is More Suitable for Describing Unhealthy Living Circumstances of Mothers?S. Sperlich1 , S. Geyer1
  • 1Medizinische Soziologie, Medizinische Hochschule Hannover
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. Januar 2010 (online)

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Zusammenfassung

Im Folgenden wird untersucht, welche Lebenssituationen für Mütter mit besonderen Gesundheitsrisiken assoziiert sind. Anknüpfend an die im medizinsoziologischen Diskurs anhaltende Diskussion um die Frage, wie die ,soziale Lage‘ definiert und ihre Komplexität angemessen erfasst werden kann, wird eine zweigleisige Auswertungsstrategie zugrunde gelegt, die sowohl eine lebenslagendifferenzierte als auch schichtspezifische Betrachtung der Gesundheitsrisiken ermöglicht. Angesichts der bislang dominierenden schichtspezifischen Betrachtung gesundheitlicher Ungleichheit interessiert in besonderer Weise, welche Erkenntnisgewinne mit der lebenslagenorientierten Perspektive verbunden sind. Für die Analyse wurden Daten von 6 094 Müttern aus Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen in ganz Deutschland sekundäranalytisch ausgewertet. Die Identifizierung von Lebenslagen unter Einbezug von Variablen zur sozioökonomischen, familiären und psychosozialen Lebenssituation erfolgte clusteranalytisch. Die Zuordnung zur oberen, mittleren und unteren Sozialschicht basierte auf dem Winkler-Index. Das in den Lebenslagen bzw. Sozialschichten vorliegende Risiko hoher gesundheitlicher Beeinträchtigungen (psychische Symptome und körperliche Beschwerden) sowie das Ausmaß von gesundheitlichen Risikofaktoren (Rauchen und Übergewicht) wurden mittels logistischer Regressionsrechnungen bestimmt. Die schichtspezifische Betrachtung ergab bezüglich der Indikatoren ,körperliche Beschwerden‘ und ,psychische Symptome‘ einen moderaten Schichtgradienten in die erwartete Richtung schichtspezifischer Benachteiligung. In der lebenslagenspezifischen Betrachtung konnten mit den ,multipel belasteten und sozial isolierten unzufriedenen Alleinerziehenden‘ sowie den ,multipel belasteten verheirateten Müttern mit geringer sozialer Unterstützung und Anerkennungsproblemen‘ zwei besonders gesundheitsriskante Lebenslagen identifiziert werden, die das Bild gesundheitlicher Benachteiligung deutlich präzisierten. Bezüglich der Risikofaktoren ,Übergewicht‘ und ,Tabakkonsum‘ konnte hingegen die hohe Relevanz des Schichtmodells bestätigt werden. Die vorliegende Arbeit verdeutlicht insgesamt die Erkenntnisgewinne, die mit einer lebenslagenorientierten Betrachtung gesundheitlicher Ungleichheit von Müttern verknüpft sind. Pauschale Urteile über die Angemessenheit von schicht- bzw. lebenslagenspezifischer Betrachtung lassen sich jedoch aus den Befunden nicht ableiten, da der Geltungsbereich beider Ansätze in Abhängigkeit von den zugrunde gelegten Gesundheitsparametern variierte.

Abstract

The aim of this study was to identify living conditions associated with elevated health risks for mothers. Following up the debate on appropriate characterisation of social structure in modern societies, two different approaches, namely the ‘social strata concept’ and the ‘concept of living conditions’, were considered. Of particular interest was the question if the concept of living conditions, which is based on a broader definition of social status, allowed a more precise description of health-related living circumstances. The study was based on clinical data from 6 094 inpatients in Mother-Child rehabilitation centres in Germany. Taking socioeconomic status, household characteristics and psychosocial stressors into account seven typical living conditions of mothers could be identified by cluster analysis. Social status was measured by the Winkler Index. A moderate health-related gradient of increasing health risks with decreasing social position could be found for psychological and bodily disabilities. The approach of living conditions revealed that two living circumstances of mothers could be identified as being related to extremely poor health. These are i) dissatisfied single mothers with high degrees of psychosocial distress and lack of social support, and ii) married mothers with conflicts within the family and self-perceived lack of appreciation. Different from these findings, a pronounced social gradient could be found for overweight and smoking. Here the concept of social strata revealed in part excessive risks compared to the concept of living conditions. Overall, the integration of further social determinants allowed a more detailed insight into health-related living conditions, which are not solely determined by socioeconomic position. A global answer about the adequacy of the ‘social strata concept’ versus ‘concept of living conditions’ for identifying unhealthy living conditions could not be given because the relevance of both conceptual frameworks depended on the health outcomes considered.