Klin Padiatr 2010; 222(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0029-1243611
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

H. M. Straßburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Januar 2010 (online)

Die in diesem Heft publizierten Arbeiten von O. A. Hampel et al. (S. 18–25), J. Kastner et al. (S. 26–34) sowie U. Nennstiel-Ratzel et al. (S. 45–50) sind Ausdruck der zunehmenden Aktivität von mehreren Arbeitsgruppen, unterschiedliche Themen der klinischen Sozialpädiatrie wissenschaftlich zu behandeln. So wird in der Arbeit von Hampel et al. im Rahmen einer multizentrischen deutschlandweiten Studie ein verhaltenstherapeutisches Eltern-Gruppen-Training auf seine Wirksamkeit überprüft. Dabei konnten eine Reduktion von dysfunktionalem Erziehungsverhalten, elterlicher Belastung und kindlichen Verhaltensproblemen nachgewiesen werden. Die Arbeit von Kastner et al. befasst sich mit dem Zusammenhang von Motorik und Kognition und die von Nennstiel-Ratzel et al. mit der Epidemiologie und Präventionsmöglichkeiten beim Plötzlichen Kindstod.

Viele Jahre war das, was wir heute unter Sozialpädiatrie verstehen, entweder eine Selbstverständlichkeit für jeden Kinderarzt oder ein wissenschaftlich nicht ganz ernst zu nehmender Randbereich der Pädiatrie, der sich vor allem mit schwerbehinderten und verhaltensauffälligen Kindern beschäftigt hat.

Nach den Pionierarbeiten von T. Hellbrügge, u. a. mit seinem Engagement für die Früherkennungsuntersuchungen, die Primärprävention und die mehrdimensionale Frühbehandlung bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten, waren es vor allem H. G. Schlack, H. von Voss und R. von Kries, die in den vergangenen 25 Jahren ein in sich schlüssiges, modernes Konzept der Sozialpädiatrie in Deutschland etabliert haben. Hierzu gehören u. a. das Prinzip der Salutogenese, die wissenschaftliche Bearbeitung der Epidemiologie im Kindesalter, Untersuchungen zur Effektivität verschiedener Heilmitteltherapien und die Heraushebung multidisziplinärer Unterstützungsangebote für die Familien von entwicklungsauffälligen Kindern. Konkrete Beispiele hierfür sind die multimodalen Konzepte bei der Behandlung der Zerebralparesen oder der Adipositas, niederschwellige Betreuungs- und Fördermaßnahmen bei biologischen und psychosozialen Risikofamilien, z. B. den extrem Frühgeborenen und neue Konzepte in der Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen, umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fähigkeiten, Intelligenzminderung, ADHS u. a.m. [1] [3] [4] [8] [11].

Von besonderer Bedeutung für die sozialpädiatrische Forschung war die Veröffentlichung des Kinder-und-Jugendlichen-Gesundheits-Surveys durch das Robert-Koch-Institut, an dem mehrere Sozialpädiater, u. a. U. Thyen, R. und C. Bergmann sowie H. G. Schlack entscheidend mitgearbeitet haben [5].

Mittlerweile gibt es in Deutschland fast flächendeckend 135 Sozialpädiatrische Zentren, in denen pro Jahr über 270 000 Kinder multidisziplinär diagnostiziert und behandelt werden [2]. In vielen Arbeitsgruppen wurden ausführliche Protokolle zu den strukturellen Grundlagen und zur Qualität der sozialpädiatrischen Behandlung erarbeitet und in den „Altöttinger Papieren 1 und 2” veröffentlicht [6] [7].

2009 erschienen praktisch zeitgleich 2 neue Monografien, zum einen von H. G. Schlack, U. Thyen und R. von Kries „Sozialpädiatrie – Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer Alltag” und von H. Bode, H. M. Straßburg und H. Hollmann „Sozialpädiatrie in der Praxis” [2] [9]. In beiden Werken wird die Sozialpädiatrie als ein Querschnittsfach der Kinder- und Jugendmedizin beschrieben, das sich mit den Bedingungen von Gesundheit und Entwicklung sowie deren Störungen und Auswirkungen beschäftigt. Dabei wird besonderer Wert auf die Partizipation im sozialen Kontext gelegt, was auch ein wesentliches Anliegen der Internationalen Klassifikation der Funktionen für Kinder und Jugendliche (ICFCY) ist. In ihrer interdisziplinären Arbeitsweise ist die Sozialpädiatrie mit natur-, geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt. Das Spektrum der Sozialpädiatrie schließt neben den Methoden der Pädiatrie solche der Epidemiologie, der Psychologie und Entwicklungspsychologie, der Entwicklungsneurologie, der Gesundheitsökonomie u. a.m. ein. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch der hohe Stellenwert, der der Elternselbsthilfe beigemessen wird, die durch das Kindernetzwerk Aschaffenburg sehr effektiv und kompetent vertreten wird.

Seit 1997 werden von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin jedes Jahr Forschungstage veranstaltet, in denen aktuelle Forschungsprojekte aus der Sozialpädiatrie vorgestellt, aber auch Fragestellungen der Entwicklungspsychologie und klinischen Neuropsychologie behandelt werden. Außerdem wird auch 2010 wieder der Stefan-Engel-Preis für die beste wissenschaftliche Arbeit aus der Sozialpädiatrie vergeben und konkrete Forschungsprojekte von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) finanziell unterstützt.

Es ist nicht in der gesamten Kinder- und Jugendmedizin bekannt, dass in den vergangenen Jahren umfangreiche Projekte mit finanzieller Unterstützung der DGSPJ durchgeführt wurden, u. a. zur Evaluation von Therapie- und Fördermethoden sowie zur Lebensqualität bei Entwicklungsauffälligkeiten, zur Langzeitprognose von sehr und extrem Frühgeborenen, zur Impfteilnahme, zur Erfassung von Kindesvernachlässigungen und Verhaltensstörungen sowie zur transkulturellen Pädiatrie [10]. Zukünftige Aufgaben sind u. a. die Neueinrichtung bzw. der Ausbau von klinischen Registern für die epidemiologische Forschung bei verschiedenen Krankheitsgruppen.

Die DGSPJ hat sich in den vergangenen Jahren sehr dafür eingesetzt, dass Sozialpädiatrie als Zusatz-Weiterbildungsfach anerkannt wird. Bisher liegen die positiven Stellungnahmen vom Vorstand und der Weiterbildungskommission der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin sowie der Ständigen Weiterbildungskommission beim Ärztetag vor. Leider war es nicht möglich, die Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie dazu zu bewegen, sich an dem Weiterbildungskonzept zu beteiligen.

Es bleibt zu hoffen, dass auch in Zukunft zunehmend wissenschaftliche Arbeiten aus dem breiten Spektrum der Sozialpädiatrie publiziert werden. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Bewältigung der riesigen Zukunftsaufgaben, die der Pädiatrie bevorstehen.

Literatur

  • 1 Blauw-Kaspers C, Hadders-Algra M. Systematic review of the effects of early intervention on motor development.  Dev Med Child Neurol. 2005;  47 421-432
  • 2 Bode H. Straßburg HM. Hollmann H. Sozialpädiatrie in der Praxis. Urban & Fischer – Elsevier-Verlag München 2009
  • 3 Blank R. von Kries R. Hesse S. von Voss H. Conductive education for children with cerebral palsy: effects on hand motor functions relevant to activities of daily living.  Arch Phys Med Rehabil. 2008;  9 251-259
  • 4 Boneberger A. von Kries R. Milde-Busch A. et al . Association between peer relationship problems and childhood overweight/obesity.  Acta Paediatr. 2009;  Epub ahead of print 
  • 5 Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz: Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys. Band 50, Heft 5/6 2007
  • 6 Fricke C. Hollmann H. Kretzschmar C. Schmid R. Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren, Qualität in der Sozialpädiatrie, Band II. Altötting: RS-Verlag 2007
  • 7 Hollmann H. Kretzschmar C. Schmid R. Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren, Qualität in der Sozialpädiatrie, Band I. Altötting: RS-Verlag 2008
  • 8 Kleber M. Schaefer A. Winkel D. et al . Lifestyle intervention „Obeldicks Mini” for obese children aged 4 to 7 years.  Klin Padiatr. 2009;  221 290-294
  • 9 Schlack HG. Thyen V. von Kries R. Sozialpädiatrie – Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer Alltag.  Springer-Verlag Berlin. 2009; 
  • 10 Strassburg HM. Leimer S. Platz A. et al . Long-term prognosis of former very and extremely preterm babies in adulthood in Germany.  Klin Padiatr. 2008;  220 61-65
  • 11 von Suchodoletz W. Therapie von Entwicklungsstörungen – was wirkt wirklich? Hogrefe.  Göttingen. 2009; 

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Hans-Michael Straßburg

Präsident der Deutschen

Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ)

Ärztlicher Leiter des SPZ „Frühdiagnosezentrum”

Universitäts-Kinderklinik

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