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DOI: 10.1055/s-0029-1245908
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Peters Suche nach Evidenz
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
10. Januar 2011 (online)

Peters neuer Patient ist schwierig. Seine chronischen Nackenschmerzen werden zwar mit jeder Behandlung besser, aber der Erfolg ist nicht von Dauer. Peter überlegt, woran das liegen könnte. Mangelt es ihm an weiteren Behandlungstechniken? Er hat verschiedene Fortbildungen besucht und diverse Techniken erfolglos ausprobiert. Peter hat gelesen, dass Mobilisation und Manipulation gleich wirken wie Placebo [9]. Die Schmerzphysiologie erklärt, dass in der Physiotherapie sensorischer Input letztendlich im Nervensystem die Schmerztore schließt [15]. Somit ist es für die Schmerzlinderung offensichtlich egal, von welchem Konzept diese Reize kommen. Peter entscheidet, dass es für ihn keinen Sinn macht, weitere Fortbildungen zum Erlernen eines weiteren Konzepts zu besuchen.
Daheim setzt er sich hin und beginnt zu lesen. Er stellt fest, dass zur Linderung von Rückenschmerzen verschiedene Behandlungsverfahren und Konzepte gleich gut wirken [16] [17], findet aber für Nackenschmerzen keinen ähnlichen Vergleich. Doch das bestätigt ihn in seiner Einstellung, keine weiteren Konzepte zu erlernen. Dann wird Peter auf Arbeiten aufmerksam, die Funktionsstörungen unabhängig vom Schmerz untersuchten. So aktivieren bestimmte Übungen z. B. die abgeschwächten tiefen oberen HWS-Flexoren besser als andere [4] [6] [7].
Peters Patient klagt ständig über seinen verspannten Nacken und will Massage. Deren Wirksamkeit bei mechanischem Nackenschmerz ist jedoch unklar [11]. Peter ist überrascht. Bisher dachte er, Schmerz stehe mit Muskelverspannungen in Verbindung, was er plausibel nachvollziehbar gelesen hatte [12]. Er sucht weiter und findet ein anderes Denkmodell, nach dem die Aktivität der Agonisten der schmerzhaften Bewegung gehemmt und die ihrer Antagonisten gefördert wird [14]. Viele Arbeiten bestätigen dieses Modell [1] [2] [3] [8]. Die praktische Konsequenz wäre, dass bei Nackenschmerzen mehr aktive Übungen anstelle (passiver) Entspannungsverfahren angewendet werden müssten. Peter liest, dass aktive Übungen kombiniert mit Mobilisation/Manipulation besser wirken als passive Techniken allein [13]. Allerdings bestehen über die Wahl der optimalen Technik und ihrer Dosierung Unklarheiten [10]. Peter entschließt sich, seinen Lerneifer künftig auf Themen auszurichten, die ihm mehr über die optimale Dosierung der Techniken und ihre Wirkung auf (auch schmerzfreie) Funktionsstörungen bringen.
Beim genaueren Lesen stolpert Peter über die Aussagekraft der Studien. Viele arbeiten mit 10 oder 20 Probanden. Wer beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel 10-mal hintereinander eine höhere Zahl würfelt als seine Mitspieler, hat Glück gehabt, ist aber nicht wirklich „besser”. In der Literatur findet Peter, dass 30 Probanden ein Richtwert für die Mindestgröße von Stichroben seien [5], was aber z. B. bei invasiven Studien aus ethischen Gründen nicht immer machbar ist. Das bedeutet, dass auch die Wissenschaft ihre Schwierigkeiten hat und die „Wahrheit” nicht so einfach finden kann. Peter fragt sich naiv, warum die Forscher sich nicht zusammenschließen. So könnten z. B. die Absolventen der Studiengänge und Weiterbildungsgruppen wie der Deutschen Föderative Arbeitsgemeinschaft für Manuelle Therapie (DFAMT) ihre Abschlussarbeiten in Gruppen erstellen. Der Lerneffekt wäre für sie größer (aufgrund der Gruppenarbeit), der (Kosten-) Aufwand für die Organisatoren geringer und – für Peter wichtig – das Ergebnis gehaltvoller, wenn er es in einem Artikel zu lesen bekommt.
Peter hat sich intensiv mit dem Nackenschmerz seines Patienten beschäftigt. Er hat dazugelernt und neue Wege für sich und seinen Patienten gefunden. Die Zeit des Lesens und des Nachdenkens hat sich gelohnt!
Auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser wünsche ich eine anregende Lektüre der manuelletherapie und frohe Festtage!
Jochen Schomacher
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Jochen Schomacher
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8702 Zollikon
Schweiz
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