Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2011; 16: S1-S2
DOI: 10.1055/s-0029-1245975
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerz – medizinische, soziale und ökonomische Herausforderung

Pain – medical, Social and Economic ChallengeR. Rychlik1
  • 1Institut für Empirische Gesundheitsökonomie, Burscheid
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. Februar 2011 (online)

Schmerz, und hier insbesondere chronischer Schmerz, stellt nach wie vor ein multivariates Problem des deutschen Gesundheitswesens dar, an dem alle Perspektiven gleichermaßen partizipieren: Der Patient leidet und sucht vielschichtig nach Erleichterung, Leistungserbringer wie Arzt, Apotheker und pharmazeutische Industrie eruieren permanent ebenfalls komplexe Behandlungsstrategien, Leistungserstatter streben nach Kostenreduktion und Abkürzung der Behandlungsstrategien, während die Gesundheitspolitik weitere Behandlungshürden (Zusatznutzen, Kosten-Nutzen-Nachweis) schafft und ein gesellschaftlicher Konsens zum Stellenwert chronischer Schmerzen derzeit offenbar nicht zu erzielen ist.

Bekannt ist, dass etwa jeder dritte deutsche Erwachsene an chronischen Schmerzen leidet. Das entspricht etwa 17 % der Gesamtbevölkerung. In Deutschland dauert es durchschnittlich 2,4 Jahre, bis die Diagnose „chronischer Schmerz” gestellt wird. Bis eine befriedigende Therapieform gefunden wird, vergehen noch mal etwa 2 Jahre. Zu den häufigsten Krankheitsbildern chronischer Schmerzen gehören Rücken- und Kopfschmerzen, gefolgt von Nervenschmerzen und Tumorschmerz. Die Datenlage zeigt, dass sowohl aus Sicht des einzelnen Schmerzpatienten als auch aus ökonomischer Sicht dringender Handlungsbedarf besteht.

Trägt man der Komplexität und Vielschichtigkeit einer Schmerzkrankheit Rechnung, so sieht eine optimale Schmerztherapie nach derzeitigem Stand die Einbindung verschiedener Fachdisziplinen im interdisziplinären Team vor. Die Behandlung folgt optimalerweise einem multimodalen Konzept, das neben medizinischen und medikamentösen Maßnahmen auch psychologisch-verhaltensmedizinische Verfahren sowie eine dem individuellen Leistungsvermögen angepasste Bewegungstherapie einschließt. Die Diagnosestellung und Verlaufsbeurteilung kann heute durch neue Fragebogen und Untersuchungsverfahren deutlich optimiert werden.

Dabei nehmen Opiate nach wie vor eine zentrale Position ein. Wie Müller-Schwefe und Überall in ihrem Beitrag „Schmerz und Lebensqualität” feststellen, ignorieren Leitlinien wie die S-3-Leitlinie LONTS (Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen) dabei jedoch die Verbesserung der schmerzbedingten Beeinträchtigung der Lebensqualität.

Im Oktober 2010 wurde die von 23 Fachgesellschaften konsentierte vorläufige Version der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz vorgelegt, deren Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie auf Grundlage der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und der fachlichen Expertise der Vertreter der eingebundenen Gesellschaften in einem aufwendigen Konsensusprozess erarbeitet wurden. Die Leitlinie bietet zwar umfangreiche Informationen zur Diagnostik potenziell gefährlicher Krankheitsverläufe, bezieht sich aber in den Empfehlungen auf den nicht spezifischen Kreuzschmerz.

Eine klare Absage erteilt die Leitlinie interventionellen und operativen Verfahren in der Behandlung akuter und chronischer Kreuzschmerzen.

Entscheidender sind nach Müller-Schwefe und Überall die wieder zu erwerbende Patientenautonomie und die Heraushebung individueller Behandlungsziele.

Neben der Qualitätssicherung der Behandlung spielen die entstehenden Kosten eine zunehmend größere Rolle.

Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen ist in den meisten europäischen Ländern seit Jahren in der gesundheitspolitischen Debatte. Bei der Diskussion um hohe Kosten im Gesundheitswesen steht die Behandlung chronischer Erkrankungen immer mehr im Blickfeld politischer Entscheidungen. Ziel der Gesundheits- und Sozialpolitik ist es, die Versorgungssituation der chronisch kranken Patienten zu verbessern, die Qualität der Behandlung zu steigern und gleichzeitig die Kosten stabil zu halten oder besser noch zu senken. Dazu ist es notwendig, sowohl Versorgungsdefizite als auch Über- oder Fehlversorgungspotenziale aufzudecken. Interessanterweise gibt es aber nur wenige Studien, die sich mit der Kostensituation detailliert auseinandersetzen, d. h. ermitteln, durch wen, wo und wofür Kosten entstehen sowie welcher Nutzen durch die Behandlung gestiftet wird.

Vauth und Greiner betonen in ihrem Beitrag neben den direkten Kosten für die GKV die volkswirtschaftliche Belastung von 20 – 40 Mrd. € pro Jahr. Darüber hinaus unterstreichen sie die Bedeutung der eingeschränkten Lebensqualität, die bereits Müller-Schwefe und Überall als Forschungsdefizit identifiziert hatten.

Insbesondere chronische Rückenschmerzen haben einen hohen Anteil (ca. 20 %) an den GKV-Kosten, aber auch den indirekten Kosten in Form von Arbeitsunfähigkeit.

Zwar gilt die klinische und ökonomische Effektivität der speziellen Schmerztherapie und damit die Notwendigkeit einer einheitlichen, spezialisierten Behandlung chronischer Schmerzpatienten nach Vauth und Greiner als belegt, dennoch sind die Versorgungsdefizite nach wie vor gravierend.

Dies bestätigt auch die Zwischenauswertung einer bundesweiten Versorgungsforschungsstudie zu Lebensqualitäts- und pharmakoökonomischen Aspekten der Therapie der chronischen Rückenschmerzen mit Opioiden, die das Institut für Empirische Gesundheitsökonomie durchführt.

Die Auswertung der Daten von 757 Patienten nach 6-monatiger Beobachtungszeit zeigte für die mit Oxycodon/Naloxon behandelte Kohorte eine signifikante Verbesserung zumindest für einen oder mehrere Teilbereiche aller Lebensqualitätsfragebogen im Vergleich zu Patienten, die mit einem alternativen starken Opioid behandelt wurden. Auch die Kostenanalyse zeigte deutlich, dass durch die Behandlung mit Oxycodon/Naloxon geringere direkte Kosten verursacht werden als mit anderen starken Opioiden.

Die Zwischenergebnisse zeigen, dass nur durch geeignete Versorgungsforschung der Patientenalltag abgebildet und Prognosen für die Weiterentwicklung der Schmerztherapie gestellt werden können.

Prof. Dr. Dr. med. P. T. Reinhard Rychlik

Institut für Empirische Gesundheitsökonomie

Am Ziegelfeld 28

51399 Burscheid

eMail: Reinhard.rychlik@ifeg.de