manuelletherapie 2011; 15(1): 41-45
DOI: 10.1055/s-0029-1246063
Fachvortrag

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Manualtherapeuten in einer sich wandelnden Ausbildung, einem sich wandelnden sozialen Umfeld und wachsender klinischer Autonomie[1]

Manual Physical Therapists in a Changing Education and Social Environment, and the Growth of Clinical AutonomyA. Moore1
  • 1Clinical Research Centre for Health Professions, University of Brighton, GB-Brighton
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Publication History

Manuskript eingetroffen: 12.5.2010

Manuskript akzeptiert: 18.5.2010

Publication Date:
23 February 2011 (online)

Dieser Artikel befasst sich im Wesentlichen mit der Entwicklung der Manuellen Therapie während der letzten Jahre. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk zwar auf Großbritannien, jedoch nicht um zu behaupten, Großbritannien hätte exemplarischen Status, sondern um dem Leser zu ermöglichen, Parallelen mit der Entwicklung im eigenen Land zu ziehen und gegebenenfalls von den Initiativen und Entwicklungsrichtungen Großbritanniens zu lernen. Der Inhalt bezieht sich vor allem auf die Ausbildungsentwicklung in Verbindung mit der Zunahme der klinischen Autonomie.

Ohne Zweifel hat die Manuelle Therapie international gesehen ein beachtliches Wachstum an Intellektualität, Fachkenntnis und Evidenz zur Unterstützung der Praxis aufzuweisen, seit Hippokrates begann, skoliotische Patienten mit Traktion und posterior-anteriorem Druck unter Benutzung eines Holzrahmens zu behandeln. Viele Länder haben von alters her Formen der Manuellen Therapie, aus denen sich verschiedene Philosophien/Professionen entwickelten, wie z. B. Physiotherapie, Chiropraktik und Osteopathie.

Während der letzten Jahre haben Chiropraktik und Osteopathie in vielen Ländern um die Anerkennung im Nationalen Gesundheitssystem (National Health Service, NHS) gerungen und einen starken akademischen Status entwickelt. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf Physiotherapeuten im Bereich Manuelle Therapie, erkennt aber auch an, dass andere manuelle Therapieformen in Großbritannien ebenso präsent sind (z. B. Chiropraktik und Osteopathie). Tatsächlich arbeiten hier alle friedlich nebeneinander, anders als in anderen Ländern, wo der Konkurrenzkampf groß ist.

In Großbritannien entwickelte sich seit 1868 der Physiotherapieberuf als eine Abspaltung von der Pflege und nutzte die Techniken und Möglichkeiten der Massage, Übungstherapie und Elektrotherapie. Einzelne Physiotherapeuten arbeiteten auf Verschreibung der Ärzte in Verbindung mit Überweisung der Patienten und der vorgegebenen Behandlungsart und -dosierung. Falls überhaupt, gab es nur geringe Ausbildungsentwicklungen oberhalb des Diploms. Erst 1976 wurde der erste Universitätskurs in Physiotherapie mit einem Abschluss an der Universität von Ulster anerkannt. Danach entwickelten alle 35 Physiotherapieschulen Studienkurse, und bereits 1992 war die Physiotherapie eine graduierte Profession.

Mit in dieser Zeit zunehmendem Vertrauen der Ärzte und des Nationalen Gesundheitssystem in den Beruf Physiotherapie wurde 1977 ein Gesetz verabschiedet, das den Physiotherapeuten das Recht zum Direktzugang gewährte und umgehend die Kontrollstellung der Ärzte reduzierte und die klinische Autonomie entscheidend erhöhte. Danach sprossen in den 80er- und 90er-Jahren Konzepte für physiotherapeutische Spezialisten aus dem Boden und erste Masterkurse entstanden, die diese Entwicklung förderten. Zum gleichen Zeitpunkt waren Physiotherapeuten in der Lage, sich für Doktoratsprogramme (Doctor of Philosophy, PhD) einzuschreiben, und schon 1990 erlangten 6 Physiotherapeuten erfolgreich ihre PhD-Doktorwürde. Im Jahr 2010 gab es in Großbritannien bereits um die 300 Physiotherapeuten mit einem Doktortitel.

Seit dem neuen Jahrtausend wurden neue professionelle und klinische Doktoratsprogramme entwickelt. Das erste professionelle Doktorat in der Physiotherapie wurde an der Universität von Brighton im Jahre 2003 entwickelt.

In den späten 1980er-Jahren entstand an der Coventry University der erste Master of Science in manipulativer Therapie, durchlief 1991 das Akkreditierungsverfahren und wurde noch im gleichen Jahr von der International Federation of Orthopaedic Manipulative Therapists (IFOMT) anerkannt. Derzeit gibt es in Großbritannien 11 dieser akkreditierten Kurse.

Gegenwärtig promovieren alle Physiotherapeuten mit einem Honours degree. Reguläre Programme dauern 3 Jahre, auch wenn viele Einrichtungen eine Ausdehnung auf 4 Jahre begrüßen würden, um Studenten eine längere Forschungszeit zu ermöglichen. Außerdem könnten damit das Curriculum erweitert und so bestimmten Bereichen größere Zeitintervalle eingeräumt werden.

Zurzeit finanziert die Regierung jedoch 4-jährige Grundkurse nicht. Alle Kurse vor dem ersten akademischen Abschluss beinhalten ein Forschungselement, eine Dissertation, die in vielen Fällen empirische/qualitative Datenerhebung, einen systematischen Review oder wie – von manchen Einrichtungen gelegentlich gefordert – einen vollständig entwickelten Forschungsvorschlag umfasst.

Die verschiedenen Ebenen der beruflichen Posten innerhalb der Physiotherapieprofession in Großbritannien sind in [Abb. 1] dargestellt. Spezialisierung erfolgt in der Regel durch Erfahrung, weiterführende professionelle Entwicklung (Continuing professional development, CPD) und einen Kurs auf Master-Ebene. Die Entwicklung der Ausbildung muss dabei mit der beruflichen Entwicklung Schritt halten.

Abb. 1 Ebenen der beruflichen Posten innerhalb der Physiotherapieprofession in Großbritannien.

Es ist interessant zu sehen, wie John Mercer, ein promovierter Pädagoge im Jahre 1978 die Autonomie der Physiotherapeuten in den 1970er-Jahren beschreibt ([Abb. 2]; [2]). Obwohl den Physiotherapeuten schon 1977 der Direktzugang bewilligt wurde, war nach wie vor eine große Anzahl an Ärzten nicht bereit, ihre Vormachtstellung aufzugeben, wie das Modell von Mercer verdeutlicht. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur wenige Physiotherapeuten, die von sich selbst behauptet hätten, große klinische Autonomie zu besitzen oder diese erhalten zu wollen. In Großbritannien hat sich diese Situation innerhalb der letzen 30 Jahre durch Faktoren wie Erfahrung, Einstellung der Physiotherapeuten, Auswahl der Therapeuten, Entwicklung des Rollenverständnisses, politische Veränderungen und Leistungsumstrukturierung der Nationalen Gesundheitsbehörde als Schlüssel zur autonomen Entwicklung dramatisch verändert. Es ist außerdem klar, dass in der therapeutischen Entwicklung von geringem/mittlerem zu hohem Autonomiestatus akademische Ausbildungsprogramme eine große Rolle spielten.

Abb. 2 Modell der Autonomie von John Mercer [2].

Der Schwerpunkt des britischen Gesundheitssystems ist jetzt hauptsächlich die Patientenbezogenheit und weniger der professionelle Status. Obwohl Patientenbezogenheit ein Modell darstellt, das wir befürworten würden, ist es eine Enttäuschung für viele Arbeitnehmer im Gesundheitssystem Großbritanniens zu beobachten, wie der Stellenwert der Professionalisierung abnimmt. Als Quintessenz werden in einem System, in dem Individuen zum Vorteil ihrer eigenen professionellen und persönlichen Stärken innerhalb ihres Arbeitsplatzes arbeiten, die professionellen Rollen und Verbände aufgelöst und interprofessionelles Arbeiten zum Schlüsselelement. Diese Strategie ist das Ergebnis der elementaren Veränderungen, die das NHS in Großbritannien seit dem NHS-Plan [1] und dem Bericht von The Lord Darzi of Denham High Quality Care for All [3] durchläuft. Es gab Veränderungen in den Dienstleistungsbestimmungen und bei der Patientenüberweisung sowie eine gesteigerte Einbindung des Patienten in den Entscheidungsprozess der Gesundheitsfürsorge.

Die Schlüsselbereiche der Entwicklung und das Hauptaugenmerk der Manualtherapeuten lassen sich derzeit in folgende Kategorien untergliedern: öffentliche Gesundheit, Wohlbefinden, Gesundheitsfürsorge, primäre Versorgung, Langzeitzustände, Gesundheitserhaltung sowie alternde und ältere Menschen [3]. Die Steuerungselemente der Gesundheitsversorgung in Großbritannien sind Qualität der Patientenbehandlung, die das Recht der Patienten einschließen, ihre Therapeuten und die Therapie frei zu wählen, die Gleichheit bei der Versorgung für alle mit Schwerpunkt auf Sicherheit und Effektivität der Versorgung, bestimmt durch die wesentlichen Erfolgsmaßnahmen und Ergebnisparameter. Die Dienstleistungserbringung betont die kompetente Arbeitskraft, optimierte Datenerhebung, verbrauchergesteuerte Versorgung, flexiblere Arbeitszeiten, Kosteneffektivität, verminderte Wartezeiten für bestimmte Behandlungen, Steigerung der Selbstmanagementstrategien des Patienten sowie die Betonung einer effektiven Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten. Dieses Dienstleistungsmodell hängt von signifikant autonomen Praxistherapeuten ab, die auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten antworten, reagieren und eingehen.

Die Veränderungen im NHS-System Großbritanniens ergaben großartige Möglichkeiten für die Rollenentwicklung individueller Mitglieder in unterschiedlichen Berufsgruppen ergeben. Im letzen Jahrzehnt zeigten sich Entwicklungen einer erweiterten Beschäftigungsmöglichkeit und in der Physiotherapie selbst ([Abb. 3]). Die Level 1 – 4 umfassen die nicht qualifizierten Praktiker, allerdings ermöglicht der Ablauf auch diesen ihre Karriere auf Level 1 beginnenden Therapeuten, auf der Leiter weiter nach oben zu steigen, indem sie sich auf entsprechender Ebene weiterbilden. Die klaren Veränderungen in der Autonomie werden in den Rollenbeschreibungen der Level 6 – 9 aufgezeigt.

Abb. 3 Karriererahmen.

In Großbritannien verkörpern Therapeuten der Level 6 (spezialisierte Praktiker), Level 7 (fortgeschrittene Praktiker und Praktiker mit erweitertem Betätigungsfeld) und Level 8 (beratende Therapeuten) komplexe Rollen mit einem hohen Maß an Autonomie und Verantwortung. Diese Autonomieebene lässt sich nur durch Weiterbildung auf angemessenem Ausbildungsniveau und Erfahrung erreichen bzw. erweitern.

Spezialisierte Praktiker (Level 6) z. B. befunden und behandeln Patienten auf einer hohen Autonomieebene. Sie dürfen Injektionen verabreichen und können Magnetresonanztomografie, Röntgen und Bluttestergebnisse anfordern und analysieren.

Fortgeschrittene Praktiker oder Praktiker mit erweitertem Betätigungsfeld (Level 7) sind Teil eines klinischen Assessment-Teams (Clinical assessment triage system, CATS). Sie führen Gemeinschaftspraxen mit beratenden bzw. spezialisierten praktischen Ärzten und Pflegern, verordnen und analysieren diagnostische Tests bei gleichzeitiger Ausführung einer klinischen Behandlungsfallzahl sowie Unterstützung und Anleitung der Berufseinsteiger.

Beratende Praktiker (Level 8) haben im klinischen Arbeitsalltag folgende Hauptfunktionen: Ausbildung von Fachkräften, professionelle Mitarbeiterführung und Unternehmensberatung, Ausbildung und Training von Mitarbeitern und deren Entwicklung, praktische Arbeit am Patienten und Serviceentwicklung sowie Forschung. Sie verfügen über einen ausgedehnten Aufgabenbereich. Viele dieser beratenden Praktiker sind an lokalen Universitäten ehrenamtlich für Lehr- und Forschungsaufträge tätig.

Die momentan zu Veränderungen des physiotherapeutischen Berufs führenden Einflüsse sind in [Abb. 4] dargestellt. Die Crux der Veränderungen in der Verteilung der Gesundheitsfürsorge und der Prioritäten in Großbritannien ist, dass die akademische Versorgung der Universitäten mit den Veränderungen der Leistungsanforderungen des Gesundheitssystems Schritt halten. Die momentane Verteilung ([Abb. 5]) und die Relation zwischen Kursangebot und Kursentwicklung sind ein zweigleisiger Prozess, in dem Kliniker oft Teil der Kursentwicklungssystems sind und gleichzeitig Verantwortlichkeiten im Lehrsystem der Universitäten übernehmen. Selbstverständlich können sie auch gemeinsame Forschungsprojekte mit ihren Universitätskollegen durchführen.

Abb. 4 Einflüsse auf die physiotherapeutische Profession.

Abb. 5 Verknüpfung von Akademie und Praxis.

Forschungsaudits, evidenzbasierte Praxis und formale Ausbildung bilden zusammen mit ständiger professioneller Entwicklung (Continuing professional development, CPD) Schlüsselpunkte der patientenorientierten Versorgung und wachsender autonomer Praxis ([Abb. 6]). Im Wesentlichen sind sie für die Berufs- und Praxisentwicklung entscheidend. Obwohl die Herausforderungen von allen Seiten in Zeiten starker Veränderungen im britischen Gesundheitssystem groß sind, war es wichtig und richtig, dass Physiotherapeuten und besonders Manualtherapeuten diese Chancen und Möglichkeiten mit beiden Händen ergriffen und voll ausschöpften.

Abb. 6 Schlüsselpunkte für Autonomie.

1 Der Beitrag wurde als Keynote-Referat im Rahmen des Symposiums Muskuloskelettale Physiotherapie – Eine Frage der Beweglichkeit in Winterthur/Schweiz am 27. Februar 2010 gehalten.

Literatur

1 Der Beitrag wurde als Keynote-Referat im Rahmen des Symposiums Muskuloskelettale Physiotherapie – Eine Frage der Beweglichkeit in Winterthur/Schweiz am 27. Februar 2010 gehalten.

Professor Ann P. Moore

Director of the Clinical Research Centre for Health Professions

University of Brighton

Aldro Building

49 Darley Road, Eastbourne

East Sussex BN 20 7UR

Email: a. p.moore@brighton.ac.uk