Gesundheitswesen 2010; 72(12): 880-885
DOI: 10.1055/s-0029-1246172
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neuralrohrdefekte in Österreich: Annahmen und Berechnungen zum Verhinderungspotenzial durch Folsäureanreicherung und-supplemente

Neural Tube Defects in Austria: Assumption and Calculations on the Prevention Potential through Folic Acid Enrichment and SupplementationI. Schiller-Frühwirth1 , T. Mittermayr1 , C. Wild1
  • 1Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment, Wien, Österreich
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. Februar 2010 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: In Ländern mit verpflichtender Folsäureanreicherung von Nahrungsmitteln (USA, Kanada) kam es zu einer deutlichen Reduktion der Neuralrohrdefekte/NRD.

Methodik: Berechnung des Präventionspotenzials in Österreich nach Daly, bzw. Wald Methode.

Ergebnisse: Der EUROCAT Studie entsprechend ist in Österreich von einer Gesamtinzidenz von 7,95 von Neuralrohrdefekten betroffenen Schwangerschaften (Lebendgeborene, Totgeborene und vorzeitig beendete Schwangerschaften aufgrund eines Neuralrohrdefektes) für 10 000 Lebend- und Totgeborene und einer Inzidenz von 3,9 für 10 000 Lebendgeborene pro Jahr auszugehen, was einer absoluten Zahl von 62, bzw. 30 bei ca. 78 000 Geburten pro Jahr entspricht. 2006 wurden von der Statistik Austria 26 Lebendgeborene mit Neuralrohrdefekten ausgewiesen.

Schlussfolgerung: Mit unterschiedlichen Anreicherungs- und Supplementierungsstrategien können 1,2 bis 1,4/10 000, d. h. 9 bis 11 Neuralrohrdefekte (Lebend- und Totgeborene) verhindert werden. Perikonzeptionelle Folsäuresupplemente sind eine wirksame Maßnahme, die Rate von Neuralrohrdefekten zu senken, allerdings nur bei geplanter Schwangerschaft. Eine obligatorische Folsäureanreicherung eines Nahrungsmittels erreicht auch ungeplante Schwangerschaften und sozial benachteiligte Frauen. Eine Rechtfertigung für eine bevölkerungsbezogene Intervention, bei der die Selbstbestimmung des Einzelnen aufgehoben wird, kann etwa in der Reduktion sozialer Ungleichheiten liegen. Neuralrohrdefekte – gut belegt – treten eindeutig häufiger in sozial benachteiligten Gruppen auf. Bei verpflichtender Anreicherung bestimmter Nahrungsmittel müssen aber sowohl potentielle Nutznießer als auch potentielle Schadensträger berücksichtigt werden.

Abstract

Background: Countries with obligatory fortification of food (USA, Canada) document a significant decrease of neural tube defects in newborns.

Methods: In this study the Daly or, respectively, the Wald method was employed for calculating the potential of fortification/and supplementation for prevention in Austria.

Results: According to the EUROCAT study, in Austria the overall prevalence of neural tube defects (live birth, still births and induced abortions due to neural defect) is assumed to be 7.95 per 10 000 live and still births, and the prevalence of 3.9 per 10 000 live births – that is 62 or, respectively, 30 in absolute numbers per 78 000 births per year. In 2006, 26 live-born children with neural tube defects were actually reported in Austria by Statistik Austria.

Conclusion: Different folic acid fortification and supplementation strategies can avoid 1.2–1.4 per 10 000 (9–11 cases) of neural tube defects (live and still births). Folic acid supplements are effective to decrease the amount of neural tube defects, however, only when pregnancies are planned. Thus, evidence-based neural tube defects are more common among lower social groups. An obligatory fortification of food could therefore reach unplanned pregnancies and women facing social problems. A reason to justify this population-based intervention where people need not decide for themselves could be the reduction of social imbalances. There are, of course, advantages and disadvantages of obligatory fortification of food and, therefore, all circumstances have to be taken into consideration.

Literatur

1 Im Nenner konnten die Schwangerschaftsabbrüche nicht berücksichtigt werden.

Korrespondenzadresse

PD Dr. C. Wild

Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology

Assessment

Garnisongasse 7/20

1090 Wien

Österreich

eMail: Claudia.wild@hta.lbg.ac.at