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DOI: 10.1055/s-0030-1247191
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Keine Laufzeitverlängerung für Schizophrenie?
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
22. Januar 2010 (online)
"Diagnostische Forschung wird kaum gefördert. Deshalb untersucht die psychiatrische Forschung weiterhin die Verteilung, Determinanten und Behandlungsformen von Konstrukten, die nicht existieren. Die Existenz zweier separater diagnostischer Systeme in der Psychiatrie, DSM und ICD, führt zu einer Verzerrung, die die Wahrscheinlichkeit jeglicher nicht nur kosmetischer Veränderung reduziert. Versicherungssysteme, wissenschaftliche Zeitschriften, Berufsgruppen, Weiterbildungsregelungen, Aufsichtsbehörden und die Organisation psychiatrischer Dienste sind fixiert auf die Tradition des 19. Jahrhunderts und verhindern gemeinsam Veränderungen."
Dies ist nicht etwa einer Streitschrift von Psychiatrieerfahrenen entnommen, sondern findet sich in dieser Form als "Additional comment" in den renommierten Acta Psychiatrica Scandinavica, in einer Übersichtsarbeit des nicht minder renommierten Jim van Os aus Maastricht, derzeit sicher einer der einflussreichsten Schizophrenieforscher im Bereich von Epidemiologie und Diagnostik weltweit [1]. Er fordert jetzt den Wandel, "change", vielleicht auch appellierend an eine politische Aufbruchstimmung, und zwar konkret mit der Einführung von ICD-11 und DSM-V voraussichtlich 2013. 2011 wird der Schizophreniebegriff sein 100-jähriges Jubiläum haben (nur darin irrt van Os, wenn er das Schizophreniekonstrukt als eines des 19.Jahrhunderts bezeichnet). Dies ist freilich, so van Os, kein Grund zu feiern, sondern vielmehr höchste Zeit, die inzwischen vorliegende Evidenz dahingehend neu zu bewerten, ein unbrauchbar gewordenes Konstrukt zu verlassen. Psychiatrische Diagnosen, so viel kann als sicher gelten, sind nicht für die Ewigkeit. Die Monomanien gibt es nicht mehr, die "endogene Depression" wurde mangels empirischer Reproduzierbarkeit abgeschafft und einigen Wunderlichkeiten in den jetzigen diagnostischen Systemen wie den "Impulskontrollstörungen" wird es sicherlich ähnlich ergehen. Nun aber ausgerechnet der Klassiker der psychischen Erkrankungen, und was soll stattdessen kommen?
Im Folgenden soll versucht werden, die Argumentation dieser wichtigen Arbeit für den deutschsprachigen Leser nachzuvollziehen.