Psychother Psychosom Med Psychol 2010; 60(3/04): 81-82
DOI: 10.1055/s-0030-1248400
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Implikationen des neuen Entgeltsystems für Psychiatrie und Psychosomatik

Implications of the German Mental Health Care Funding ReformFlorian  Kreisz1 , Ulrich  Cuntz2 , Stephan  Zipfel1
  • 1Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik Tübingen
  • 2Medizinisch-Psychosomatische Klinik Roseneck, Prien am Chiemsee
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Publication Date:
23 March 2010 (online)

Prof. Stephan Zipfel

Leistungsorientiert und pauschalierend, tagesbezogen und durchgängig soll es werden, das neue Entgeltsystem für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. So jedenfalls will es der § 17d des Krankenhausfinanzierunggesetzes (KHG) vom März des vergangenen Jahres. Laut Gesetz sind dabei „medizinisch unterscheidbare Patientengruppen” abzubilden, deren stationäre oder teilstationäre Behandlung ab 2013 mit dem Produkt aus bundeseinheitlichen Basisfallwerten und Relativgewichten vergütet werden soll. Damit wurde ein umfangreiches Reformvorhaben in Auftrag gegeben, das die obigen Fachgebiete zum Teil in die Logik einer pauschalierenden Vergütung von Krankenhausleistungen einzubeziehen sucht und welches schon heute alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellt.

In einem ersten Schritt hat das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Oktober 2009 Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) veröffentlicht, die seit dem 1. Januar 2010 bundesweit gelten. Alle stationär und teilstationär durchgeführten Behandlungen in den Kliniken der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie sind demnach mittels des vorliegenden OPS zu verschlüsseln und zu übermitteln. Der aktuelle Katalog des neuen OPS (Stand 28.10.2009) enthält für Psychosomatische Abteilungen dabei im Wesentlichen drei unterschiedliche Komplexprozedurenschlüssel: Regelbehandlung (9–60), Intensivbehandlung (9–61) und psychosomatisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung (9–63). Diese Ziffern beziehen sich auf Patientencharakteristika und / oder Basisleistungsmerkmale eines Therapierahmenangebotes und sollen wochenbezogen erfasst werden. Die darüber hinaus erbrachten therapeutischen Leistungen der Einzel- und Gruppentherapie sollen über die „Patientenwoche” addiert und den Komplexprozedurenziffern als Intervallcodes zugeordnet werden. Daraus ergeben sich mindestens 4 OPS-Ziffern pro Patient und Woche – vorausgesetzt alle 4 Berufsgruppen (Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte und Spezialtherapeuten) sind mit Therapieleistungen im Sinne des Psych-OPS an der Behandlung des Patienten beteiligt.

Zur weiteren Differenzierung des Behandlungsaufwandes können außerdem noch ein Schlüssel für diagnostische Leistungen (1–903) sowie Zusatzinformationen beigefügt werden. Dazu zählt z. B. die „Integrierte klinisch-psychosomatisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung” (9–642). Diese Zusatzziffer kann codiert werden, wenn schwere körperliche Begleiterkrankungen über 24 Stunden die Infrastruktur eines Krankenhauses mit einer Klinik für Innere Medizin oder einer anderen somatischen Fachabteilung (Neurologie, Anästhesiologie / Schmerztherapie, Orthopädie) einschließlich verfügbarem Notfalllabor begleitend zur psychosomatisch-psychotherapeutischen Komplexbehandlung erfordern. Weitere Zusatzziffern beziehen sich auf z. B. die 1 : 1- oder 2 : 1-Betreuung eines Patienten (9–640) sowie auf die „Kriseninterventionelle Behandlung” (9–641) (OPS 2010).

Diese neuen Operationen und Prozedurenschlüssel (Psych-OPS) dienen zunächst als Erhebungsinstrumente für die zur Systementwicklung benötigten Versorgungsdaten. In 2011 werden darüber hinaus alle weiteren kostenrelevanten Leistungen in sogenannten „Kalkulationshäusern” erfasst und ebenfalls übermittelt. Das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) wird auf Basis dieser Datensätze und den dazugehörigen Patientendaten, die vom Gesetzgeber geforderten Basisfallwerte und Relativgewichte ermitteln und nach Möglichkeit unterscheidbaren Patientengruppen zuordnen. Dabei bleibt abzuwarten, ob und welche Patientenmerkmale als sog. „Kostentrenner” identifiziert werden können und wie sich dies auf die Vergütungsstruktur insgesamt auswirken wird. Im Unterschied zum DRG-System der somatischen Disziplinen, soll das neue Psych-Vergütungssystem dabei ausdrücklich nicht diagnosebezogen entwickelt werden, da anerkanntermaßen die Diagnosen der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen allein, kein hinreichend geeigneter Prädiktor für den individuell notwendigen Therapieaufwand darstellen. Ein weiterer sehr bedeutsamer Unterschied zum DRG-System, ist die tagesbezogene Pauschalierung die das KHRG vorsieht. Diese stellt keinen primären Anreiz zur Verkürzung der Aufenthaltsdauer dar. Damit ist ein weiterer wesentlicher Unterschied zum DRG-System gegeben und die teilweise in der Diskussion verwandte Terminologie der „Psych-DRGs” ist demnach in ganz wesentlichen Gesichtspunkten irreführend.

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass die betroffenen Fachbereiche sich kurzfristig einem komplexen neuen Erfassungssystem gegenüber sehen, das einen deutlichen Zuwachs an Dokumentations- und Administrationsaufwand bedeutet. Darüber hinaus, werden die Mitarbeiter vieler Kliniken und Abteilungen vor die Herausforderung der Neuveranlagung von Organisationsabläufen oder ganzer Behandlungssettings gestellt, um den Struktur- und Prozessbedingungen etwa bestimmter Komplexprozedurenziffern gerecht werden zu können. Die zeitlichen Rahmenvorgaben sind dabei denkbar knapp bemessen. Zwar bleibt die fehlerhafte oder fehlende Übermittlung der Daten nach Psych-OPS bis zum 1. Juli 2010 sanktionsfrei, aber der aktuelle Zeitplan der Reformschritte darf wohl dennoch als höchst ambitioniert bezeichnet werden. Positiv zu sehen ist, dass die beteiligten Institutionen, wie etwa das InEK, während der Entwicklung des DRG-Systems einige Erfahrung und methodische Expertise in der Entwicklung und Einführung von pauschalierenden Vergütungssystemen gewonnen haben. Dies wird sicher der inhaltlichen Prozess- und Ergebnisqualität der Systementwicklung zugute kommen. Für die Mitarbeiter psychiatrischer und psychosomatischer Kliniken aber, ist dieser Prozess eine gänzlich neue Herausforderung, zu deren verantwortlicher Umsetzung vor Ort mehr Zeit zu wünschen wäre.

Für viel Diskussionsstoff haben seit der Veröffentlichung der „Psych-OPS” auch die darin angelegten Definitionen für Einzel- und Gruppentherapie gesorgt. Demnach gilt eine psychotherapeutische Leistung im Sinne des OPS nur dann als codierrelevant wenn sie mindestens 25 min am Stück gedauert hat. Eine Gruppentherapie ist aktuell nur dann gesondert zu codieren wenn nicht mehr als 9 Patienten an der Gruppe teilgenommen haben. Vor allem Letzteres, mag für manche Abteilungen eine Neuordnung der gruppentherapeutischen Abläufe bedeuten. Der Anreiz z. B. Gruppen mit mehr als neun Patienten zu verkleinern ist dabei evident, sollten derart Unterscheidungen ab 2013 vergütungsrelevant werden. Dazu ist anzumerken, dass z. B. Großgruppen, indirekte Leistungen wie Therapie- und Teamsupervision oder auch Patientenkontakte unter 25 min, im Rahmen der Probekalkulation in 2011 miterfasst und als solche später potenziell auch in einer Vergütung berücksichtigt werden.

Dennoch mag ein solcher Veränderungsdruck auf die Behandlungsabläufe der Kliniken und Abteilungen den Eindruck erwecken, als müsse in Zukunft der konzeptionelle psychotherapeutische Inhalt der genormten Form eines Vergütungssystems folgen. Auf der anderen Seite ist die Formulierung von Qualitätsstandards und als solches kann etwa die Begrenzung der Gruppengröße ja durchaus auch verstanden werden, kein einfaches Unterfangen. Die Setzung einer bestimmten Grenze wird dabei so lange als beliebig oder austauschbar gelten, wie dazu hinreichende Evidenz fehlt. Umgekehrt könnte man argumentieren, dass eine Konvergenz z. B. der Gruppengrößen unter dem Veränderungsdruck neuer Systemdeterminanten und die damit möglicherweise einhergehenden Reduktion der therapeutischen Vielfalt, gerade nicht geeignet sein werden, hierzu neue Erkenntnisse gewinnen zu können.

War die PsychPV ein Entgeltmodell, bei dem die Strukturqualität bezahlt wurde, so wird mit dem neuen Entgeltsystem der Versuch unternommen, dass zukünftig auch Prozessqualitätsaspekte von Relevanz sein werden. Neben den vielfältigen individuellen Konsequenzen auf die therapeutisch-organisatorischen Prozesse z. B. einer psychosomatischen Abteilung, setzt ein Vergütungssystem das im prozessualen Sinne „leistungsorientiert” angelegt ist, unter Umständen den Anreiz möglichst viele Einzelleistungen zu erbringen, um dadurch den monetären Erlös einer Klinik oder Abteilung zu maximieren. Dabei sollte während der weiteren Entwicklung auch kritisch reflektiert werden, dass eine bloße Zunahme der erbrachten Einzelleistungen nicht zwingend die Ergebnisqualität verbessert, sondern dieser im individuellen Fall durchaus auch zuwiderlaufen kann. Dieser Teilaspekt ist aus anderen Bereichen hinlänglich bekannt und darf wohl auch als Hypothese für die hier betroffenen Fachgebiete gelten. Andererseits ermöglicht ein in dieser Weise differenziert ausgestaltetes System, die für die Psychiatrie und die Psychosomatik so wichtige Möglichkeit der individuellen Veranlagung der Therapiedosis. Hier in einem neuen Vergütungssystem mittels der Einzelleistungskomponente Spielräume zu bewahren, um die individuelle Gestaltung einer (teil-)stationären Psychotherapie jeweils auch mit dem individuellen Aufwand abbilden zu können, ist mindestens soviel Segen für die therapeutische Freiheit, wie es ökonomisch den Fluch der Einzelleistungsinflation bedeuten kann.

Die verantwortliche Erarbeitung sachgerechter Vorschläge zur Anreizbalancierung bleibt deshalb Aufgabe der Selbstverwaltungsorgane. Alle Beteiligten werden dabei auf eine möglichst breit angelegte wissenschaftliche Evaluierung angewiesen sein. Das Ziel sollte letztlich ein System sein, bei dem finanzielle Anreize in Einklang mit fachlichen Gesichtspunkten zu bringen sind und bei dem der größte ökonomische Nutzen für den Erbringer sich dann ergibt, wenn nicht so hoch wie möglich, sondern so angemessen wie möglich dosiert wird.

Diese beispielhaften Ausführungen machen deutlich, dass die Einführung des neuen Entgeltsystems eines zwingend notwendig macht: Eine Begleitforschung die mögliche Auswirkungen der neuen Anreize und Bedingungen objektiviert und kommuniziert. Die betroffenen Disziplinen sind deshalb aufgerufen, sich wissenschaftlich intensiv den Belangen des neuen Entgeltsystems zuzuwenden, um die Gestaltung eines differenzierten und im eigentlichen Sinne leistungsgerechten Vergütungssystems mit der nötigen Evidenz zu unterstützen. Die positiven wie nachteiligen Auswirkungen eines neuen Vergütungssystems verdienen und verlangen die differenzierte Analyse und evidenzbasierte Bewertung. Dann kann es gelingen, ein Vergütungssystem zu entwickeln, dass im Sinne der zu versorgenden Patienten qualitativ hochwertige Therapieangebote nicht nur ermöglicht, sondern fördert. Der Anspruch der Reformgesetzgebung der ein „lernendes System” als Zielvorgabe einschließt, darf dabei als gute Vorraussetzung gelten, für die Fruchtbarkeit derartiger Anstrengungen. Allerdings bleibt nach den Erfahrungen der Einführung der somatischen DRGs die Frage nach einer adäquaten Vergütung für den zusätzlichen Dokumentationsaufwand genauso unklar, wie die Frage nach der adäquaten Abbildung von Aus- und Weiterbildungsaufwänden.

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. med. Stephan Zipfel

Universitätsklinikum Tübingen
Medizinische Klinik VI
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Osianderstraße 5

72076 Tübingen

Email: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de