PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(3): 201
DOI: 10.1055/s-0030-1248527
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Familientherapie heute

Bettina  Wilms, Rüdiger  Retzlaff, Jochen  Schweitzer
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 August 2010 (online)

Irgendwie war sie entstanden, diese Idee, ein Heft zur Familientherapie zusammenzustellen. Der Kerngedanke war: Es könnte viel Neues zu berichten geben über Entwicklungen der therapeutischen Arbeitsmodelle für Mehrpersonensettings. Mehr als sonst in einem Heft von Psychotherapie im Dialog üblich ist, haben wir über die Landesgrenzen hinweg geschaut und Beiträge aus Großbritannien, der Schweiz, Israel und den USA aufgenommen. Die Beiträge von Volkmar Aderhold und Nils Greve zum Offenen Dialog, von Andreas Ganter und Birgit Spohr zur Multidimensionaler Familientherapie bei Drogenabhängigkeit, von Karl Heinz Münch zur Aufsuchenden Familientherapie, von Michael Scholz zur Multifamilientherapie und das Interview mit Andreas Eickhorst zu dem präventiven Projekt „Keiner fällt durchs Netz” zeigen, dass es auch im deutschsprachigen Raum neue Modelle und Entwicklungen gibt; sie lehnen sich aber oft an Entwicklungen aus dem angloamerikanischen Raum an. Für bestimmte Probleme – wie zum Beispiel schwer zu erreichende Jugendliche mit Verhaltensproblemen oder Suizidalität, bei Drogenmissbrauch oder Magersucht – gelten systemische Ansätze in vielen Ländern als ein wertvoller und erfolgreicher Behandlungsansatz, der breite Anwendung findet.

Durch die noch immer fehlende sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie ist die Familientherapie in der ambulanten kassenpsychotherapeutischen Versorgung in Deutschland eher inoffiziell als offiziell präsent (in der Arbeit von Kolleginnen und Kollegen, die als Verhaltenstherapeuten oder Tiefenpsychologen registriert sind), und sie ist in der akademischen Psychotherapieforschung kaum repräsentiert – im deutlichen Unterschied zu den Ländern, aus denen etliche unserer Autoren stammen.

Ein deutlicher Trend ist die Integration und Verbindung von familientherapeutischen und systemischen Ansätzen mit Konzepten anderer Therapieverfahren: Die Beiträge von Volker Thomas zur Filialtherapie, der Bindungstheorie (Beitrag von Guy Diamond und Suzanne Levy zur Bindungsorientierten Familientherapie) und der Mentalisierungsbasierten Familientherapie (Beitrag von Eia Asen und Peter Fonagy) machen dies deutlich. Sie zeigen auch, dass althergebrachte familientherapeutische Strategien wie das Herstellen und Fördern von Nähe, Problem- und Lösungsinszenierungen oder enactments, die Moderation von Konfliktgesprächen und die Einleitung eines Perspektivenwechsels durch systemische Fragen nach wie vor als zentrale therapeutische Techniken gelten und als Bereicherung von anderen Psychotherapieverfahren gelten können. Hans Lieb und Günther Reich reflektieren dies überzeugend im Hinblick auf Verhaltenstherapie und Psychoanalyse, machen aber deutlich, das systemische Therapeuten umgekehrt von den Haltungen und Herangehensweisen dieser beiden Verfahren profitieren können.

Deutlich wird auch, dass „systemisch” nicht gleichbedeutend ist mit „Familientherapie” und Familientherapie schulenübergreifende Konzepte herausfordert – und dies vielleicht mehr als in den Jahren der „großen” Familientherapeuten. Nach Jochen Schweitzer ist Familientherapie in erster Linie als Setting definiert. Die Protagonisten dieses Heftes zeigen auch, dass der Ort von „Therapie” (wenn es denn so zu nennen ist) sich verändern kann: Aufsuchende Familientherapie und nutzerorientierte Vorgehensweisen zeigen eindrucksvoll, was der Gewinn sein kann, wenn Therapeuten sich „in Bewegung” setzen. Neben Familientherapien im klassischen psychotherapeutischen Setting sind etliche der Modelle beweglicher geworden. Familientherapien finden auch in tagesklinischen Mehrfamiliengruppen statt, Therapeuten suchen Familien auf, beziehen aktiv das Arbeiten mit dem weiteren sozialen Umfeld ein – zum Beispiel Freunde oder Schulen – und kooperieren mit Berufsgruppen wie Familienhebammen, um aktiv Risikofamilien zu erreichen. Diese flexibleren Formen von Unterstützung und Hilfe bringen allerdings auch eine Veränderung des Selbstverständnisses von Therapeuten und einen anderen Umgang mit Fragen der sozialen Kontrolle mit sich. Ein Mehr an sozialer Verantwortung bedeutet wohl auch ein Mehr an wahrgenommener sozialer Kontrolle. Aber wo hört Verantwortung auf und fängt Einmischung in „innere” Angelegenheiten an? Wo beginnt die Familie als privater Ort und wann endet das, was Haim Omer das „Geheimnis” nennt und Eltern animiert, sich nicht länger zu verstecken, sondern sich ein Netz von Unterstützern zu suchen mit dem Ziel, diese in das Modell des Gewaltlosen Widerstandes einzubinden?

Womit wir wieder bei der Überschrift wären: Familientherapie heute? Wie in den Anfangsjahren der Familientherapie schöpft sie aus vielen Quellen, integriert und bereichert andere Therapieverfahren, dringt zunehmend auch in neue soziale Kontexte vor, und bietet einen wunderbaren Zugang zu kleinen und großen Menschen und ihren Problemen. Wir wünschen Ihnen in jedem Fall viel Freude dabei und vielleicht die eine oder andere ungewöhnliche Neu- oder Wiederentdeckung … und dann „Auf Wiedersehen” am Ende, beim Resümee …