PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(3): 284-285
DOI: 10.1055/s-0030-1248530
Im Dialog

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wir empfehlen …

Dirk  Revenstorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 August 2010 (online)

Peter Fiedler: Verhaltenstherapie – mon amour. Mythos, Fiktion, Wirklichkeit.
Stuttgart: Schattauer, 2010.

Ein ungewöhnliches Buch: kenntnisreich und dicht, der Titel bizarr. Man stelle sich vor:

Eine Dame Jahrgang 1913, die in die Jahre kam. Sie hatte ihre Abstammung von den Mäusen nie geleugnet (deren enge Verbindung zu den Menschen schon Steinbeck erkannte) und aufgrund ihrer intensiven Forschungstätigkeit hatte sie sich in den empirischen Wissenschaften ein nicht unbeträchtliches Ansehen verschafft. Besonders in akademischen Kreisen war sie wegen ihrer Transparenz und Zuverlässigkeit sehr beliebt, was zu einer Flut schriftlicher Äußerungen von politisch aktiven Universitätsprofessoren über ihr gutes Verhalten und ihre unkomplizierte Handhabung führte. Es lagen bald ungezählte Manuale über die unterschiedlichsten Einsatzmöglichkeiten vor, die den Eindruck erweckten, mit dieser Partnerin könne jeder umgehen und sein Geschäft machen. Im Alter von etwa 50 wurde ihr Verhalten zunehmend ausdrucksloser; dafür entdeckte sie rechtzeitig vor der Entlarvung ihres schlichten Gemüts in einer kognitiven Wende zum Besseren ihre geistigen Qualitäten. Aber auch diese blieben überschaubar und konnten leicht kartografiert werden, sodass auch auf dieser Ebene ihre Attraktivität mit der Zeit nachließ. Da besann sich die Rentnerin auf ihre Gefühle. Denn wenn man Menschen berühren will, dann muss man Gefühle in ihnen wecken. Wie richtig dieser Gedanke war, bestätigten wenig später die Neurobiologen, die an der Sprossung von Synapsen sichtbar machten, was allen sowieso schon klar war, nämlich dass nur bleibt, was einen erregt. Die Dame aber war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr erregend; sie litt an Rigidität, musste sich eines Gehstockes bedienen und sogar zeitweise im Rollstuhl gefahren werden, hatte auch weitgehend das Gehör der Menschen, die im praktischen Leben stehen, verloren und sah trotz zahlreicher Brillen nicht mehr wirklich in die Zukunft. Da sie sich dem menschlichsten aller Vorkommnisse, nämlich dem Ableben näherte, entdeckte sie am Ende ihres Daseins die Spiritualität. Damit hoffte sie die höheren Weihen zu haben, was aber zu einem Zeitpunkt kam, als zahlreiche mit derartigen Weihen ausgestattete Persönlichkeiten aus der theologischen Abteilung öffentlich in Misskredit geraten waren. Jetzt siecht sie leicht depressiv dahin (BDI = 25) in ihrem Emeritus-Kämmerchen, befleißigt sich eifriger Schreiberei zur Stärkung zahlreicher berufspolitischer Monopole und empfängt gelegentlich alte Freunde.

Nun fragt man sich, wie ein so überaus belesener, schriftlich wie kaum ein anderer hervorragend ausgewiesener und weltläufiger Autor wie Peter Fiedler sich in eine so anspruchslose Pflanze verlieben kann – wo ihn doch schon sein Lateinlehrer vom schlichten Fiedler in einen stolzen Geiger umgetauft hatte. Ob er denn nie den tropischen Garten der humanistischen Psychologie betreten und sich von den exotischen Schönheiten dort hat bezaubern lassen, sondern immer nur durch die beschlagenen Gewächshausscheiben geschaut hat? Ist er der unbedarften Braut im revolutionären Gewand früher Tage aus Bescheidenheit treu geblieben oder hat eine gewisse Alterskurzsichtigkeit ihn übersehen lassen, dass die Dame sich mit glanzlosen Dubletten schmückt: das Denken von den Sophisten geborgt, die biografische Analyse von den Tiefenpsychologen und die Beziehungsgestaltung von den Gesprächstherapeuten (S. 325); für ein bisschen Hermeneutik den Phänomenologen in die Tasche gegriffen und die systemischen Aspekte der Familientherapie, die Schematherapie aus der Transaktionsanalyse (S. 351) entnommen, die Emotionalität von der Gestalttherapie (S. 321) und der Körpertherapie, die Entspannung von der Hypnose, die Achtsamkeit vom Buddhismus entlehnt (S. 315, 344).

Wie doch an der Seite der mit falschen Klunkern behängten Dame (man lese Steffen Fliegels Schmuckkästchen Therapeutische Schätze I und II) die Treue zum Betrug gerät. Denn im Ernst: Nicht dass man die Verhaltenstherapie des Plagiats und Plünderns bezichtigen möchte, aber es geht ja um die Sicherung handfester monetärer Interessen in der Ausbildung und der Kassenabrechnung. Aber man befindet sich in guter kolonialer Gesellschaft – hat nicht Napoleon den Place de la Concorde mit einem geklauten Obelisk aus Ägypten geschmückt? Wo Iver Hand (Strategisch-systemische Aspekte der Verhaltenstherapie) in nüchterner ebenfalls autobiografisch unterfütterter Bilanz die Grenzen und Widersprüchlichkeiten der Verhaltenstherapie unbarmherzig offenlegt und zu einer Revision der Ansprüche der alten Dame rät, kann sich Peter Fiedler nicht von der Verklärung eines Verfahrens trennen, das der Psychotherapie tatsächlich im empiristischen Flachland der Medizingesellschaft bei den ersten Gehversuchen geholfen hat. Ein unschätzbares Verdienst von verdienten Veteranen – solcher Kämpen etwa wie mein verehrter Lehrer und langjähriger Förderer Johannes Clemens Brengelmann (1920–1999), der übrigens auf zwei Holzbeinen, von denen ich immer vermutet habe, dass er sie ein wenig verlängert hat anfertigen lassen, überaus zählebig und unerschütterlich daher kam. Mittlerweile jedoch aufgrund ihrer Gefräßigkeit längst aus allen Nähten geplatzt und seit Längerem ohne passendes theoretisches Gewand, tritt sie nunmehr schamlos nackt und unförmig ans Rednerpult, die Verhaltenstherapie.

Es entgeht dem scharfen Blick des Autors keineswegs die Begrenztheit der genuin verhaltenstherapeutischen Konzepte, und er versteigt sich in der Not zum rhetorisch WM-reifen Fallrückzieher des „inneren Verhaltens” um ein bisschen Seele einzufangen (S. 97). Er holt großzügig aus, um den Leser glauben zu machen, die gesamte Geisteswelt sei eigentlich im Kern der Verhaltenstherapie angelegt und ihre ureigene Domäne erstrecke sich von der Philosophie und Anthropologie bis hin zur Religion – Psychoanalyse natürlich inbegriffen (S. 157). Fehlt eigentlich noch die Archäologie. Der Leser muss sich ernsthaft fragen, was ein derart aufgeblähter Begriff noch hergibt – ganz zu schweigen von Ockam’s Rasiermesser. Wenn Peter Fiedler es doch um eine Neuvermessung der Psychotherapie ginge, wofür er ganz sicher als einer der wenigen kompetenten deutschen Kandidaten infrage kommt, dann könnte sein Buch als ein Manifest zur Reformation verstanden werden – nur ist ein solches Anliegen kein verhaltenstherapeutisches, sondern eines der gesamten Zunft. Auch hat der Autor dem schwerwiegenden Vorwurf der Parzellierung der Psyche, den er vonseiten der Tiefenpsychologen hörte (S. 173), in seiner anhäufenden Denkweise wenig entgegenzusetzen. Durch welche Denkfigur es vielleicht doch noch gelingen könnte, die Sinnfrage, die Identität des Menschen, sein Ich oder sogar Bewusstsein und Schicksal (S. 390) mit ins Menü zu nehmen? Danach sucht der gespannte Leser zunächst vergebens. Dann wird er durch ein furioses Finale überrascht: Mit Rückgriff auf Philosophen wie Kirkegaard, Sartre und Camus und Sinnsucher von Frankl bis Yalom wird die existenzielle Verhaltenstherapie aus der Taufe gehoben (S. 382). Nun wartet man nur darauf, dass schlussendlich auch das Sterben in den Katalog dysfunktionaler Verhaltensmuster aufgenommen wird und es zu einer Manualisierung des tibetischen Totenbuchs kommt.

Erfrischend ist die nüchterne Art, in der Peter Fiedler auf die Grenzen neurobiologischer Begründungszusammenhänge (S. 303ff., S. 329) und die Fragwürdigkeit der gängigen RCT-Forschung zur Absicherung der Wirksamkeit der Psychotherapie hinweist (S. 418). Insgesamt trotz aller konzeptueller Fragezeichen ein sehr lesenswertes Buch, das einen schnell auf den neuesten Stand der Psychotherapiediskussion bringt – in methodischer wie praktischer Hinsicht.

Besonders gelungen ist die Diskussion der praxisrelevanten Themen wie Personen- versus diagnoseorientiertes Vorgehen im Einzelfall (S. 440), Spezialisierung und Omnipotenzanspruch des Therapeuten (S. 450), das tapfere Eintreten für eine (auch) Defizitorientierung und die Rückbesinnung auf die phänomenologische Betrachtung des Falles (S. 465) und die Notwendigkeit von Beratungsstrategien (S. 284). Auch erfährt man nebenbei viel Wissenswertes aus dem privaten Leben des kochenden Vielseitigkeitsdenkers – von seiner Fünf in Latein bis zu Erfahrungen mit der Zubereitung von Auberginengerichten.

Prof. Dr. Dirk Revenstorf

Universität Tübingen

Biesingerstraße 9

72070 Tübingen

Email: drevenstor@aol.com