PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(3): 264-267
DOI: 10.1055/s-0030-1248536
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Es wäre gut, wenn es weniger Vorbehalte gäbe, Angebote zur Unterstützung anzunehmen!”

Andreas  Eickhorst im Gespräch mit Bettina  Wilms
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Publication Date:
18 August 2010 (online)

PiD: Welche Merkmale muss eine Familie haben, dass Sie oder Ihre Mitarbeiter mit ihr in Kontakt kommen?

Andreas Eickhorst: Wir arbeiten eng mit allen Institutionen und Berufsgruppen in unseren Projektgebieten (Landkreise oder Großstadt) zusammen, die Kontakt zu Schwangeren oder jungen Familien haben, also Gynäkologen, Kinderärzte, Beratungsstellen, Jugendamt, Gesundheitsamt, ARGE und insbesondere die Geburtskliniken. Diese Personen bekommen Infos oder auf Wunsch auch eine Schulung von uns, welche Belastungsfaktoren bei Familien eine Rolle spielen können; im Wesentlichen werden diese auch auf der „Heidelberger Belastungsskala” (siehe Anhang) abgefragt. Wenn also Mütter oder Väter mit diesen Faktoren „auffallen”, werden sie angesprochen, ob sie an unserem freiwilligen Projekt teilnehmen möchten. Ein Ziel unserer Sensibilisierung der Fachpersonen ist es, dass nicht nur auf ganz offensichtliche Faktoren, wie etwa Armut oder Drogengebrauch, geachtet wird, sondern z. B. auch auf Anzeichen von Überforderung, fehlendem Netzwerk oder psychischen Problemen. In der Regel sollte dazu ein vertiefendes Gespräch mit den Familien geführt werden.

Was muss eine Familie tun, damit sie mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern in Kontakt kommt?

Neben der Möglichkeit, dass die Familie angesprochen wird (s. o.), kann sich jede interessierte Familie auch an unsere Koordinierungsstellen wenden, die es in jedem Projektgebiet gibt. Hier läuft alles zusammen, Infos werden gegeben und Hilfen vermittelt. Das Personal besteht aus Sozialarbeitern, Kinderärzten oder Psychologen, im Projektgebiet Saarland sind sogar immer zwei Personen, nämlich ein Sozialarbeiter und ein Kinderarzt, vertreten. Die Koordinatoren würden dann mit der Familie telefonieren, einen Hausbesuch machen oder ggf. auch schon eine Familienhebamme vorbeischicken, um dann zu entscheiden, welche Form der Hilfe für welchen Zeitraum geeignet ist.

Welche Art von Unterstützung benötigen diese Familien? Wo wird diese Unterstützung angeboten?

Das Projekt versucht entweder, im Sinne der optimalen Netzwerknutzung, über die Koordinatoren diejenigen Hilfen zu vermitteln, die im Projektgebiet schon vorgehalten werden, aber oftmals den Familien nicht bekannt sind. Alternativ bieten wir die projekteigenen Hilfen an, je nach Bedarf der Familie. Die rein projekteigenen Hilfen sind:

Der Elternkurs „Das Baby verstehen” als Angebot der Primärprävention für alle Familien. Hier ist die Anmeldung auch direkt beim Anbieter möglich, also ohne die Koordinierungsstelle vorher einbezogen zu haben. Einsatz der Familienhebamme. Diese kommt auf Projektkosten für max. ein Jahr in die Familien nach Hause und bietet dort nicht nur die „üblichen” Hebammendienstleistungen an, sondern hat darüber hinaus ein Auge auf die Gesamtfamilie, sensibilisiert die Eltern für die Signale des Säuglings und versucht ebenso, die Eltern-Kind-Bindung zu stabilisieren. Wir versuchen, auch die Bedürfnislage der Väter in den Projektfamilien zu erfassen und diesen spezielle Angebote zu machen. Dieser Teil steckt noch etwas in den Kinderschuhen, kann aber hoffentlich bald vielen Vätern angeboten werden.

Welche Hürden, Widerstände und Umsetzungsprobleme sehen Sie?

Es finden sich Vorbehalte oder auch nur einfach Gewöhnungsprobleme im Miteinander der verschiedenen Berufsgruppen: Jugendhilfe – Gesundheitshilfe; Hebammen – Krankenschwestern; Ärzte – Hebammen etc. Oftmals ist es auch nur die unterschiedliche Fachsprache, die das Finden eines gemeinsamen Nenners erschwert; so meinen z. B. Jugendhilfe und Gesundheitshilfe zum Teil etwas anderes, wenn sie von „Kindeswohlgefährdung” oder „Kinderschutz” sprechen.

Außerdem hilft uns der Datenschutz nicht immer: Datenschützer tun sich oft sehr schwer damit, Familien in irgendeiner Form zu beurteilen (was natürlich eine Voraussetzung für die Auswahl derjenigen Familien, die diese Hilfe benötigen, ist). Natürlich meinen es die Datenschutzbeauftragten gut und haben ein sinnvolles Anliegen, aber meiner Ansicht nach ist dies in diesem Themenfeld oft kontraproduktiv und erfordert dringend eine ernstzunehmende politische Debatte.

Und man braucht einfach viel Zeit, da sind die drei Jahre Laufzeit eines Projektes zu wenig, um wirklich alle Fachkräfte zu erreichen, Vorbehalten zu begegnen und eine Routine des Kontaktes zu entwickeln. Und natürlich auch, um den Familien vor Ort zu zeigen, dass wir wirklich Hilfe bieten, die sich auch lohnt und die nicht automatisch mit einer Datenweitergabe verbunden ist, dass also die behauptete Vertraulichkeit auch wirklich gewahrt wird.

Abb. 1 Heidelberger Belastungs-Skala (HBS).

Wie sähe aus Ihrer Sicht ein ideales Hilfsangebot für Familien aus?

„Ideal” ist natürlich immer schwierig … aber richtig gut wäre eine Kombination aus den heute vielerorts angebotenen guten Ansätzen; da würde ich jetzt mal unbescheidenerweise unser Angebot dazuzählen, aber auch weitere Ansätze, die sich spezifisch um andere Kulturen kümmern, die eine länger anhaltende psychologische Begleitung anbieten können, die auch ambulante Gruppen und Treffs haben, die die Väter gut einbeziehen, die für Migrantenfamilien spezifische Angebote haben und die – darauf läuft es natürlich immer irgendwie hinaus – genügend finanzielle Ressourcen haben, dass niemand sich überarbeiten muss, dass sämtliche Kontingente nur nach Sachkriterien vergeben werden und dass auch mal Spielraum da ist, im Zweifel eher mehr anzubieten als zu sparen …

Wird dies irgendwo in Deutschland oder anderswo in Europa angeboten?

Nein, in dem umfassenden Sinne sicher nicht; aber es gibt viele gute Projekte, aus denen ich die Einzelteile für das oben Beschriebene nehmen würde; zum Beispiel, aber längst nicht nur, die bundesweiten Modellprojekte der Frühen Hilfen des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen”, von denen wir ja auch eines sind.

Glauben Sie, dass Familien heutzutage Therapie brauchen? Und wenn ja, welche?

Ich würde sagen: In der Masse brauchen sie nicht zwingend Therapie, eher frühzeitige Unterstützung und Beratung, BEVOR sich Probleme festsetzen, die dann eine Therapie unumgänglich machen. Aber deshalb gibt es ja die Projekte der Frühen Hilfen. Die Themen, die hier im Vordergrund stehen sollten, sollten verhaltensnah und auf das Familiensystem fokussiert sein, also eine Mischung aus Familientherapie und verhaltenstherapeutischen Momenten. Damit möchte ich jetzt aber andere Richtungen nicht von vornherein ausschließen. Regulationsschwierigkeiten, die „Passung” zwischen Eltern und Säugling, der Einbezug aller Familienmitglieder, das Verstehen und möglichst intuitive Beantworten der Signale des Säuglings sind diese primär wichtigen Themen – sowohl in der frühzeitigen und niedrigschwelligen Beratung als auch in einer evtl. Therapie, falls notwendig.

Gibt es eine Form der Unterstützung für Familien, die aus Ihrer Sicht unterlassen werden sollte?

Nein; höchstens wenn die Rahmenbedingungen ungünstig sind; wenn etwa die Teilnahme nicht freiwillig ist oder die Teilnahme mit einer „Meldung” an das Jugendamt verbunden ist. Dies muss zwar nichts Schlimmes sein, weckt aber bei den betroffenen Familien oft Vorbehalte und Misstrauen.

Natürlich sind auch Fälle denkbar, wo solch ein Vorgehen nötig ist, aber dann haben wir den Rahmen der Prävention und der Frühen Hilfen verlassen und sind im Interventions- bzw. Kinderschutzbereich; wobei es auch klar sein muss, dass die Trennung dieser Bereiche oft nicht komplett gelingen kann.

Wenn Sie einen Wunsch für Familien in Deutschland frei hätten, wie würde er lauten?

Vor allem, dass immer mehr Familien sich trauen, die Angebote, die es gibt, wie z. B. Kurse, Beratung, Hausbesuche, auch anzunehmen; ohne Bedenken und Vorbehalte. Und dies nicht erst, wenn die Belastungen sehr groß geworden sind, sondern ruhig auch präventiv oder zum „Reinschnuppern”; dass die Teilnahme also nicht als Eingeständnis des eigenen erzieherischen Unvermögens gesehen wird, sondern als Chance, etwas Neues zu lernen. Natürlich passiert das schon viel, aber es dürfte gern noch mehr werden …

Und natürlich, dass weiterhin genügend Geldgeber bereit sind (auch auf kommunaler Ebene für eigene Projekte vor Ort), entsprechende Projekte und – noch besser – dauerhaft installierte Angebote zu fördern.

Abb. 2 Stufenplan zur Erreichung aller Familien mit Hilfsbedarf.

Dies ist in Anbetracht vieler grausam klingender Sparanstrengungen der letzten Wochen und Monate ein wichtiger Wunsch zum Abschluss. Herzlichen Dank, Herr Eickhorst.

Worum geht es bei dem Projekt „Keiner fällt durchs Netz?”

Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz” wurde vom Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg von Herrn Prof. Dr. Manfred Cierpka initiiert und will durch Angebote für Eltern die frühe Lebenssituation von Kindern verbessern. Belastungen der Familien sollen frühzeitig identifiziert werden, um rechtzeitig präventive Angebote planen zu können, die zur Verhinderung ungünstiger Entwicklungsverläufe, Missbrauch und Vernachlässigung beitragen. Gleichzeitig sollen die Zugangswege zu Hilfsangeboten so beschaffen sein, dass stark belastete Familien diese annehmen und für sich nutzen können. Das Projekt sieht drei Stufen vor, um stark belastete Familien zu erreichen:

  • das Herstellen eines Zugangs zur Familie

  • die Identifizierung einer Risikokonstellation

  • eine Vermittlung zu einer angemessenen Intervention