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DOI: 10.1055/s-0030-1250013
© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
Eure Nahrungsmittel mögen Eure Heilmittel sein
Publication History
Publication Date:
24 June 2010 (online)
„Eure Nahrungsmittel mögen Eure Heilmittel sein“ – dieses üblicherweise Hippokrates von Kos (ca. 460 bis ca. 370 v. Chr.) zugeschriebene Zitat bekommt jeder Absolvent der Weiterbildungskurse für die Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren zigmal eingebleut. Vermutungen, dass verschiedene, darunter auch sog. gesunde Lebensmittel schlecht verträglich sein könnten, äußern oft erst seine Patienten. Das Phänomen ist zunehmend häufiger und in neuen Varianten anzutreffen. Mittlerweile werden nicht nur einzelne Lebensmittel, sondern auch in vielen enthaltene, leicht identifizierbare Bestandteile wie bestimmte Kohlenhydrate, Histamine, ja sogar ganze Lebensmittelgruppen als unverträglich für immer größere Bevölkerungskreise proklamiert.
Akzeptanz für die zugrunde liegenden Konzepte, Bemühungen um adäquate Diagnostik und meist ernährungstherapeutische Behandlungsstrategien waren und sind von jeher in naturheilkundlichen Behandlerkreisen vermutlich eher anzutreffen als beispielsweise bei Gastroenterologen oder Allergologen. Auch deshalb möchte sich die zkm mit dieser Ausgabe dem Thema in einer bislang nicht gewohnten Breite nähern.
Erst seit wenigen Jahren können wir uns entspannter über den ärztlich unterstützten Absatzterror interessierter Marketing- und EU-Kreise hinwegsetzen, gemäß dem der brave, heißt gesundheitsbewusste Deutsche gefälligst einen Liter frische Milch pro Tag zu trinken hatte. Wir erklären Patienten mit Laktoseunverträglichkeit, dass sie das biologisch ursprünglichere und vermutlich auch sinnvollere Prinzip verkörpern. Der relativ kleine, überwiegend hellhäutige Anteil an der Weltbevölkerung mit Laktoseverträglichkeit stellt dagegen das Endprodukt eines unbarmherzigen Ausleseprozesses dar, der mit der äußerst riskanten Migration des stets neugierigen Menschen in den in frühhistorischen Zeiten ohne Milchvieh unbewohnbaren Norden begann.
Rätselhaft bleibt dagegen derzeit, warum ein wesentlich kleinerer Anteil der Bevölkerung nun auch die Fruchtzucker im so wichtigen Obst nicht vertragen soll. Ist es die allgegenwärtige Lebensmittelindustrie, die ihn uns zu häufig und oft in flüssiger Form präsentiert?
Wahrscheinlich kommen wir bald auch dahin, Glutenunverträglichkeit in allen Schattierungen nicht mehr als ein Stigma zu begreifen, sondern zu erkennen, dass sich die westlichen Gesellschaften zu sehr auf zu stark glutenhaltige Getreide, insbesondere Weizen, eingelassen haben. Gluten spielt in 3 Beiträgen in z. T. überraschenden Zusammenhängen die zentrale Rolle.
C. Klotter dagegen versucht in einem bewusst pointiert abgefassten Beitrag, das zweifellos häufig anzutreffende neurotische Element im ganzen Geschehen aufzuzeigen.
In Zeiten einer immer noch zunehmenden Medikalisierung des gesamten Lebens muss auch die Frage nach einer möglichen iatrogenen Beteiligung gestellt werden. Etwa 7 % unserer Bevölkerung nehmen regelmäßig durch ärztliche Verordnung Protonenpumpenhemmer ein. B. Uehleke untersucht deren Verträglichkeit und weist u. a. auf ihre Ambivalenz hin, gastrointestinale Symptome lindern wie erwecken zu können.
Die Diagnostik bleibt ein zentrales Problem. Bis auf Weiteres sind Patienten und Ärzte wegen der teilweise nicht gegebenen Erstattungsfähigkeit, vor allem aber wegen der schlechten Prädiktion vieler angebotener Tests aufgerufen, gemachte Erfahrungen mit Speisen sorgfältig zu besprechen, ggf. auch langfristig Abstinenz und Re-Exposition gelassen und vertrauensvoll zu planen. Für die naturheilkundlich/komplementärmedizinische Ausrichtung in der Medizin eine Riesenchance!
Dr. med. Rainer Stange