Zeitschrift für Komplementärmedizin 2010; 2(6): 23-25
DOI: 10.1055/s-0030-1250572
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Phytopharmaka sind Arzneimittel mit Bild und Geschichte

Im Gespräch mit Volker Schulz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
25. November 2010 (online)

Abb. 1 Prof. Dr. med. Volker Schulz.

Prof. Volker Schulz studierte Medizin und Biochemie. Nach Stationen in verschiedenen Kliniken als Assistenz- und Oberarzt erhielt er 1987 die Professur für Innere Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Köln. Ab 1988 war er langjähriger Forschungsleiter eines mittelständischen Pharmaunternehmens. Durch verschiedene Tätigkeiten u. a. als Mitglied der Kommission E am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat er die Entwicklung der Phytotherapie der letzten Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt. Im zkm-Interview erzählt Prof. Schulz, warum das innere Verhältnis zu einer Arznei genauso zur Wirkung beiträgt wie die Pharmakologie der Wirkstoffe, welche Erfolge die Phytotherapie bisher verbuchen kann und welche Entwicklungen künftig kritisch sein könnten. Sie engagieren sich seit vielen Jahren in der Phytotherapie, was hat Sie dazu gebracht, sich diesem Thema zuzuwenden? Gab es bestimmte Erlebnisse? Heilpflanzen haben mich zwar schon als Kind fasziniert. Mein Engagement in der Phytotherapie war dennoch eher beruflicher Zufall. Als Arzt und Diplom-Biochemiker hatte ich seinerzeit in der Kölner Universitätsklinik meinen Forschungsschwerpunkt im Bereich der klinischen Pharmakologie. Unter zahlreichen Arzneimittelstudien, die ich damals organisiert und betreut habe, waren auch solche mit Phytopharmaka. Das hat mich 1987 in die industrielle Pharmaforschung mit pflanzlichen Arzneimitteln geführt. Wo liegen die Stärken der Phytotherapie, was sind ihre Schwächen? Phytopharmaka sind Arzneimittel mit Bild und Geschichte. Der Patient kann sich, nehmen wir an bei einem Lavendelpräparat, den Blütenzauber und den Duft der Pflanze dazu vorstellen. Wir werden täglich in Büchern, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen auf Gesundes aus der Natur hingewiesen. Heilkräuter sind auch ein Teil deutscher europäischer Kulturgeschichte. Ein harmonisch gewachsenes inneres Verhältnis zur Arznei kann bei Anwendungsgebieten wie Angst, Depression oder Schlaflosigkeit aber wichtiger sein als die Pharmakologie der Wirkstoffe. Am richtigen Platz angewendet, können pflanzliche Arzneimittel dem Patienten Leid und der Krankenkasse Geld ersparen. Die Schwäche der Phytotherapie liegt darin, dass sie ihre Wohltaten nur bei ausgewählten Indikationen, v. a. bei leichten Gesundheitsstörungen mit subjektiver Symptomatik, voll entfalten kann. Der fürsorgliche therapeutische Rahmen spielt außerdem eine besondere Rolle, wofür in der Praxis manchmal die Zeit fehlt. In den 70er- und 80er-Jahren waren Sie in verschiedenen Kliniken tätig. Sehen Sie große Änderungen im Vergleich zu heute bezüglich der phytotherapeutischen Anwendungen und Verordnungen bzw. der Akzeptanz dieser Methode im Klinik- und Praxisalltag? Die Phytotherapie spielte und spielt in Kliniken der Grund- und Regelversorgung kaum eine Rolle. Pflanzliche Arzneimittel hat v. a. der naturheilkundlich orientierte Hausarzt mit Erfolg verordnet. Jedenfalls war das früher so, bis zum Gesundheits-Modernisierungsgesetz (GMG) vom April 2004. Das GMG hat bekanntlich die pflanzlichen Arzneimittel mit 4 Ausnahmen von der Erstattung durch die Krankenkassen ausgeschlossen. Seither kontaktieren Patienten wesentlich seltener ihren Arzt wegen pflanzlicher Arzneimittel, was zur Reduktion von Arztkosten auch der Zweck dieses Gesetzes war. In den letzten Jahrzehnten hat sich auch die Rolle des Patienten gewandelt. Zahlreiche (nicht immer seriöse) Informationsquellen bieten ihm Möglichkeiten, sich vor dem Arztbesuch zu informieren. Nicht selten kommt er schon mit einer ablehnenden Haltung gegenüber konventionellen Methoden und möchte „etwas Pflanzliches“. Welche Rolle spielt die Einstellung des Patienten auf die Wirksamkeit von Phytotherapeutika? Ein Patient, der mit einer akuten depressiven Episode in die Praxis kommt und sagt „ich will keine Chemie“, wird in der Tat auf ein synthetisches Antidepressivum kaum ansprechen. Ein Johanniskraut-Präparat kann dann genau das Richtige für ihn sein. Der eigene Wille des Patienten, zur Überwindung seiner Krankheit beizutragen, sollte grundsätzlich gefördert und dabei der spezielle Arzneiwunsch so weit wie möglich respektiert werden. Seriöse Vorabinformationen tragen dann auch zum Behandlungserfolg bei. Schwieriger wird es, wenn Pflanzliches dort verlangt wird, wo Synthetisches besser angebracht wäre. Dann muss man sich mit dem Patienten gegebenenfalls auch über die Informationsquelle und deren Hintergründe (z. B. verdeckte redaktionelle Werbung?) auseinandersetzen. Wie sehen Sie die derzeitige Entwicklung in der Forschung und bei den Herstellern von Phytotherapeutika? Die Phytotherapie ist vor etwa 3 Jahrzehnten mit dem Forschungsziel angetreten, sich als 100 %ige allopathische Therapierichtung zu profilieren. In den Neunzigerjahren hat das auch zu respektablen Achtungserfolgen geführt. Denken Sie nur an Crataegus, Ginkgo oder Sägepalme. Der Gesetzgeber hatte aber bereits in einer Präambel zum 2. AMG von 1976 zum Ausdruck gebracht, dass es ihm weniger um Gleichstellungen als um die Erhaltung „konkurrierender Therapierichtungen“ ging. Dieser Zweck, also die Ankurbelung des Wettbewerbs in bestimmten Segmenten des Arzneimittelmarkts, wurde durchaus auch erfüllt: Der Weltmarkt der Antidepressiva wurde nach 4 Jahrzehnten ungezügelter Prosperität durch Johanniskraut als gleichwertige Arznei nachhaltig erschüttert. Die weitere Entwicklung hat jedoch nicht dazu geführt, die Phytotherapie innerhalb der „Schulmedizin“ aufzuwerten, sondern den Beitrag der Wirkstoffpharmakologie in typischen Anwendungsgebieten pflanzlicher Arzneimittel abzuwerten. Daraus erwachsen Konsequenzen, denen bisher gepflegte Grundsätze und Maximen der Phytotherapie nicht mehr gerecht werden. Was nützen noch aufwendige Entwicklungen von „High-Tech-Extrakten“, wenn diese als Wirkstoffe letztlich doch nur einen nachrangigen Beitrag zum Behandlungserfolg der Arznei leisten können? Vor der Wahrnehmung dieser Erkenntnis schrecken viele Hersteller noch zurück. Die Forschungsaktivitäten der Phytopharmakahersteller in Deutschland scheinen etwas nachzulassen, während z. B. die Installierung von mittlerweile 6 deutschsprachigen Professuren für Naturheilkunde ihnen qualifizierte akademische Partner zur Seite stellt, woran liegt das? Die klinische Forschung hat führenden Phytopharmakaherstellern in Deutschland in den Neunzigerjahren einen Umsatzboom beschert. Gegenwärtig werden im Gegenteil manche Ergebnisse aus großen internationalen klinischen Phytopharmakastudien zum Desaster für Zulassung und Vertrieb. Da helfen auch keine Professoren, die das entstandene Malheur selbst noch nicht glauben wollen. Da hilft nur eine radikale Kurskorrektur. Gibt es einen Goldstandard bei der Überprüfung der therapeutischen Wirksamkeit einer Phytodroge? Welche Aspekte sollten bei Wirksamkeitsnachweisen berücksichtigt werden? Nach 2 Jahrzehnten intensiver Beschäftigung mit der klinischen Wirksamkeitsprüfung bin ich persönlich zu der Erkenntnis gelangt, dass die meisten Phytopharmaka zwar eine gewisse pharmakologische Wirkpotenz haben. Die Behandlungserfolge in der Praxis lassen sich damit aber nur zum kleineren Teil erklären. Zum wesentlichen Teil beruhen letztere auf dem, was in der Fachsprache sehr undifferenziert und leider häufig auch nur abwertend als Placeboeffekte bezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund macht es aus meiner heutigen Sicht weniger Sinn, wenn für Zulassungen und sonstige Nutzenbewertungen pflanzlicher Arzneimittel v. a. die Ergebnisse placebokontrollierter Studien als „Goldstandard“ dienen. Das verführt letztlich nur zur Vortäuschung wirkstoffbedingter Erfolge (die Möglichkeiten dazu sind bei klinischen Studien vielfältig vorhanden, auch wenn darüber selten gesprochen wird). Ich empfehle deshalb seit Jahren, kontrollierte Studien mit Phytopharmaka v. a. im direkten Vergleich mit synthetischen Standardarzneimitteln durchzuführen. Dominante Placeboanteile an der Effektstärke sind dann nämlich keine Frage des pflanzlichen und synthetischen Wirkstoffs mehr, sondern ergeben sich v. a. aus der Wahl der Anwendungsgebiete. Führt aber beispielsweise eine Vergleichsstudie zwischen einem Johanniskrautpräparat und einem SSRI-Antidepressivum zum statistischen Beweis äquivalenter Wirksamkeit, dann ist klar, woran der praktizierende Arzt seine Arzneiauswahl ausrichten muss, nämlich an der Verträglichkeit und an den Kosten der Präparate. Bislang nutzte die Phytotherapie hierzulande v. a. einheimische Pflanzen, spätestens mit Teufelskralle, Weihrauch und Umckaloabo sind hier nicht anbaubare dazugekommen. Wird dieser Trend sich fortsetzen? Glauben Sie, dass z. B. aus dem Artenreichtum der Regenwälder Pflanzen mit völlig neuen therapeutischen Möglichkeiten auf uns zukommen werden? Teufelskralle und Pelargonium sehe ich als Sonderfälle; Weihrauch hat trotz jahrelanger Forschung bisher nicht zu einem zulassungsfähigen Präparat geführt. Pflanzlichen Arzneimitteln aus anderen Kulturkreisen, wie ayurvedischer, tibetischer oder traditioneller chinesischer Medizin (TCM) fehlt in Europa der traditionelle und kulturelle Hintergrund, was mir sehr wichtig erscheint. Darüber hinaus dürften die hier gestellten Anforderungen an die pharmazeutische Qualität, wie auch ich sie aus Gründen der Sicherheit für die Zulassung als unabdingbar erachte, von diesen Produkten nur selten erfüllt werden. Ich halte die gegenwärtig gepflegten Vorlieben, etwa zur TCM, eher für eine temporäre Welle, die auch aus den genannten Zulassungsgründen bald wieder abebben wird, wie das bei vielen Modeerscheinungen der Fall ist. Wenn Sie zurückblicken, wo sehen Sie die größten Erfolge in der Entwicklung der Phytotherapie in den letzten Jahren? Gibt es Dinge, die Sie kritisch sehen? Zu den kritischen Dingen ist schon genug gesagt. Als größten Erfolg in der Entwicklung der Phytotherapie sehe ich innerhalb der letzten 3 Jahrzehnte die umfassende Bewertung der deutschen und europäischen Arzneidrogen durch die Kommission E. Deren Aufbereitung des Erkenntnismaterials hat für etwa 250 positiv bewertete Phytopharmaka die notwendige Basis zur Therapiesicherheit gelegt. Die Gewährleistung der letzteren ist aber, wie bereits erwähnt, bei den Anwendungsgebieten, auf die es hier ankommt, ein ganz entscheidendes Kriterium. In Deutschland und Europa zugelassene Phytopharmaka sind für den Patienten so sicher wie in keiner anderen Region der Welt. Es wäre schade, wenn sich diese große Vorleistung im therapeutischen Nichts auflösen würde. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Mehr kritische Ehrlichkeit bei allen, die mit pflanzlichen Arzneimitteln zu tun haben. Lieber Herr Prof. Schulz, herzlichen Dank für das Interview.

Zum Weiterlesen

  • 1 Schulz V, Hänsel R. Rationale Phytotherapie. Ratgeber für Ärzte und Apotheker. 5. Aufl.. Berlin: Springer; 2004
  • 2 Blaschek W, Ebel S, Hackenthal E, Holzgrabe U, Keller K, Reichling J, Schulz V Hrsg.. Hagers Enzyklopädie der Arzneistoffe und Drogen. 6. Aufl.. Stuttgart: WVG; 2007