Zusammenfassung
Hintergrund: Intersektorale Leistungsverlagerungen sind gemäß § 87a Abs. 4 Nr. 3 SGB V bei der
jährlichen Anpassung von Leistungen zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor
zu berücksichtigen. Deren Messung ist ein bisher ungelöstes Problem der Versorgungsforschung.
Methodik: Auf Grundlage eines Versichertenklassifikationssystems werden Versicherte mit bestimmten
Morbiditätsmerkmalen identifiziert, bei denen im zeitlichen Verlauf eine Leistungsintensivierung
sowie eine Fallzahlzunahme im vertragsärztlichen Sektor bzw. eine Leistungseinschränkung
sowie Fallzahlabnahme im stationären Sektor zu beobachten ist. Unter Zuhilfenahme
des Vergleichs von erwarteten und tatsächlichen Krankenhausfällen wird der Versuch
unternommen, den Umfang der Leistungsverlagerungen zu quantifizieren. Dieser Versuch
zur Quantifizierung des Umfangs der Leistungsverlagerung aufgrund nicht mehr erfolgter
stationärer Behandlung wird vorgestellt.
Ergebnisse: Für 26 Risikogruppen in Form von hierarchisierten Morbiditätsgruppen (HMG) im vertragsärztlichen
Sektor sind die nach dieser Methodik vorgeschlagenen Kriterien einer Leistungsverlagerung
vollständiger Behandlungsfälle erfüllt. Das Gesamtvolumen verlagerter Leistungen aus
dem stationären in den vertragsärztlichen Sektor wird unter den hier gemachten Annahmen
für die GKV-Population auf rund 424 Mio. € geschätzt. Konkrete Berechnungen gemäß
§ 87a Abs. 4 Nr. 3 SGB V müssen sich auf eine engere Leistungsabgrenzung beziehen,
bedürfen weiterer methodischer Konkretisierung und sollten nach Meinung der Autoren
regionalisiert erfolgen. Weitere methodische Ansätze müssen geprüft werden.
Abstract
Background: The financial dimension of long term changes in the medical division of labour between
inpatient care and ambulatory care has yet to be systematically monitored. While this
is of general interest for health systems research there is now an acute need for
the development of reliable methods to measure the effects of shifts in care as part
of physician payment reform in Germany. The Social Code Book V (§ 87a Sec 4 No 3)
requires the collective contracting partners to determine risk adjusted payment targets
for regional populations thereby also taking into account shifts between inpatient
and ambulatory care.
Methods: Using predictive modelling patient groups are identified which meet the following
two criteria in two consecutive years: 1) increases in actual cost exceeded expected
cost in sector a while expected cost exceeded actual cost in sector b; 2) absolute
number of cases increased in sector a and decreased in sector b. The model is based
on the definition of a limited set of risk groups as defined by the risk adjustment
scheme applied to German sickness funds. For our study these risk groups have been
calibrated separately for each sector creating a common set of predictors. The second
criterion focuses the approach on patient shifting as the most tangible effect of
shifted care. In order to quantify the effect of patient shifting another predictive
modelling approach is developed using the difference between expected and actual inpatient
cases per risk group to estimate the resulting change in ambulatory case load. The
cost of the additional case load per risk group is calculated for Germany based on
population-based claims data (77 million patients).
Results: The criteria for patient shifting as defined above apply to 26 out of 95 risk groups.
At the level of risk groups hardly any patient shifting into ambulatory care was detected.
On average for each patient with the respective risk factors 0.6 additional cases
in ambulatory care were estimated as result of reduced incidence of inpatient care.
In total the additional cost associated with patient shifting from inpatient care
to ambulatory care was estimated 424 million € (2007). This represents 1.5% of total
spending on ambulatory care and underlines the importance of the issue to health services
research. Roughly 80% of this amount is likely to be eligible to physician services
relevant to morbidity adjusted targets under payment reform. Prior to implementation
as a payment formula, however, the approach needs to be based on a comprehensive risk
adjustment model and needs further refinement.
Schlüsselwörter
intersektorale Leistungsverlagerung - Vergütungsreform - ambulante und stationäre
Vergütung
Key words
patient shifting - payment reform - ambulatory and inpatient payment - predictive
modeling
Literatur
1 Lüngen M, Lauterbach KW. Konsequenzen der DRG-Einführung für die ambulante Versorgung.
Krankenhausreport 2003. Schattauer Verlag; 2004: 173-186
2 Eiff von W, Klemann A, Meyer N. REDIA-Studie II – Auswirkungen der DRG-Einführung
auf die medizinische Rehabilitation. Münster. LIT Verlag; 2007
3
Reinhold T, Thierfelder K, Müller-Riemenschneider F. et al .
Gesundheitsökonomische Auswirkungen der DRG-Einführung in Deutschland – eine systematische
Übersicht in Das.
Gesundheitswesen.
2009;
71
306-312
4 Rochell B, Sokoll M, Wenzk A. et al .Auswirkungen auf den vertragsärztlichen Sektor.
In Rau F, Roeder N, Hensen P, Hrsg. Auswirkungen der DRG-Einführung in Deutschland.
Kohlhammer Verlag; 2009: 216-228
5
Sens B, Wenzlaff P, Pommer G. et al .
DRG-induzierte Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Organisationen, Professionals,
Patienten und Qualität.
Zentrum für Qualität und Management im Gesundheitswesen.
2009;
6
Siegers J-P.
Pilotstudie zu Verlagerungseffekten stationär – ambulant bei den Behandlungskosten
für die gesetzliche Krankenversicherung in Folge der Einführung von Krankenhauspauschalen.
2007, Online unter:
http://hss.ulb.uni-bonn.de/2007/1022/1022.htm (Zugriff am 04.02.2010)
7
Koch H, Kerek-Bodden H, Heuer J. et al .
Ermittlung von Verlagerungseffekten infolge der DRG-Einführung. Zentralinstitut für
die Kassenärztliche Versorgung.
Unveröffentlichtes Manuskript. Berlin
2006;
8 Häussler, Höer, Hempel et al. Arzneimittel-Atlas 2007. Arzneimittelverbrauch in
der GKV. Urban & Vogel; 2007: S48-S53
9
Grobe T, Dörning H.
Gutachten Methoden der „versichertenbezogenen Bilanzierung” Erprobung der Nutzung
von Versichertenklassifikationsverfahren und regressionsanalytischer Modellrechnungen
zur Identifikation von Verlagerungseffekten auf der Basis von bereits verfügbaren
Daten aus dem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Institut für Sozialmedizin,
Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung.
Unveröffentlichter Endbericht. Hannover. Juni
2009;
10
Reschke P, Sehlen S.
Methoden der Morbiditätsadjustierung in Gesundheits- und Sozialpolitik.
2005;
1–2/2005
10-19
11
Stillfried D, Ryll A.
Umsetzbarkeit morbiditätsbezogener Regelleistungsvolumen in der vertragsärztlichen.
Versorgung in Gesundheits- und Sozialpolitik.
2004;
11–12/2004
36-50
12 Schallock, Heuer, Czihal et al. Komorbidität herzkranker Patienten in der vertragsärztlichen
Versorgung und demografisch bedingte Entwicklungstendenzen, In: Bruckenberger Hrsg.:
Herzbericht 2008 mit Transplantationschirurgie. 21. Bericht Sektorenübergreifende
Versorgungsanalyse zur Kardiologie und Herzchirurgie in Deutschland sowie vergleichende
Daten aus Österreich und der Schweiz, http://www.herzbericht.de 2009: S173-S182
13
ISEG, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung, Hannover,
.
Grobe TG, Dörning H, Schwartz FW.
GEK-Report ambulant-ärztliche Versorgung 2008. In GEK-Gmünder Ersatzkasse: Schriftenreihe
zur Gesundheitsanalyse, Band 67
14
ISEG, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung, Hannover
.
Bitzer EM, Grobe TG, Neusser S, Dörning H, Schwartz FW.
GEK-Report Stationäre Versorgung 2008. In GEK-Gmünder Ersatzkasse: Schriftenreihe
zur Gesundheitsanalyse, Asgard-Verlag, Band 63
15
Häussler B, Stapf-Finé H.
Arznei- und Heilmittel: Kostenverlagerung vom Krankenhaus in die Praxis.
Deutsches Ärzteblatt.
1998;
95
(3)
A-75/B65/C-65
16 Wilke MH, Höcherl E, Scherer J. et al .Die Einführung des neuen DRG-basierten Entgeltsystems
in Deutschen Krankenhäusern – Eine schwierige Operation?. In Unfallchirurg 2001–104
Springer Verlag; 2001: 372-379
17
Petersen, Pietz, Woodard et al. Comparison of the Predictive Validity of Diagnosis-Based
Risk Adjusters for Clinical Outcomes. Medical Care. Volume 43 – Issue 1
2005;
61-67
1 Teilnehmer des Methodenworkshops waren Dr. Bernd Brüggenjürgen (Institut für Sozialmedizin,
Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité- Universitätsmedizin Berlin), Dr. Thomas
Grobe (Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung),
Prof. Dr. Bertram Häussler (Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH), Herr
Peter Ihle (PMV Forschungsgruppe), Prof. Dr. Norbert Roeder (Universitätsklinikum
Münster), Frau Gloria Schmidt (Universität Mannheim), Dr. Enno Swart (Institut für
Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie).
2 Link zur Ausschreibung: http://www.zi-berlin.de/news/index.php
3 vgl. insbesondere Dokumente „Festlegungen nach § 31 Abs. 4 RSAV” sowie „Erläuterungen
zur Festlegung von Morbiditätsgruppen, Zuordnungsalgorithmus, Regressionsverfahren
und Berechnungsverfahren durch das Bundesversicherungsamt” aus der Informationszusammenstellung
des BVA vom 3.07.2008 (Festlegung der Morbiditätsgruppen, des Zuordnungsalgorithmus,
des Regressions- sowie des Berechnungsverfahrens); Link: http://www.bundesversicherungsamt.de/cln_100/nn_1440668/DE/Risikostrukturausgleich/Festlegungen/Festlegungen__Klassifikationsmodell.html
4 Nach der Systematik des Bewertungsausschusses wird zwischen Leistungen unterschieden,
die der Morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) und damit einer Mengensteuerung
zugerechnet werden und Leistungen, die grundsätzlich ohne Mengensteuerung abrechenbar
sind. Leistungsverlagerungen gemäß § 87a Abs. 4 Nr. 3 SGB V sind nur bei der Anpassung
der MGV zu berücksichtigen. Diese Leistungsabgrenzungen konnten im Rahmen des ISEG-Berichtes
nicht berücksichtigt werden.
5 Es handelt sich um den durchschnittlichen Fallwert mit einem Punktwert von 3,5 Cent
über alle ambulanten Fälle gemittelt. Dieser Fallwert ergibt sich nach sachlich-rechnerischer
Richtigstellung des anerkannten Leistungsbedarfs ohne Mengenbegrenzung.
6 Vgl. Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses gemäß § 87 Abs. 4 SGB V in seiner
15. Sitzung am 2. September 2009 zur Weiterentwicklung der vertragsärztlichen Vergütung
im Jahr 2010.
7 Eigene Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der
Bundesrepublik Deutschland.
Korrespondenzadresse
Dr. D. von Stillfried
Zentralinstitut für die
Kassenärztliche Versorgung
Herbert-Lewin-Platz 3
10623 Berlin
eMail: zi@kbv.de