Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(1): 46
DOI: 10.1055/s-0030-1253145
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Fütterstörungen bei Kindern

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Publication Date:
01 April 2010 (online)

? Viele Kinder verweigern gelegentlich die Nahrungsaufnahme, z.B. bei akuten Halsschmerzen. Wenn die Verweigerung längere Zeit anhält und Gedeihstörungen nach sich zieht, wird es ernst. Wann kann man von einer chronisch gestörten Nahrungsaufnahme sprechen?

Ja, vorübergehende Fütterprobleme sind im Kindesalter – gerade im Säuglingsalter – häufig und nicht gleich als Störung oder als pathologisch zu bewerten. Es sollte erst von einer Fütterstörung gesprochen werden, wenn die Füttersituationen von den Eltern über einen Zeitraum von mindestens 1 Monat als belastend empfunden werden. Als typische objektive Merkmale für eine Fütterstörung können jenseits der ersten 3 Lebensmonate eine durchschnittliche Dauer der Füttersituationen von mehr als 45 Minuten und/oder Intervalle zwischen den Mahlzeiten von weniger als 2 Stunden herangezogen werden. Fütterstörungen können, müssen aber nicht, mit einer Gedeihstörung einhergehen.

? Welche Ursachen können zugrunde liegen?

Die genannten therapeutischen Interventionen und Diagnosen würde ich gerne als primäre und sekundäre Ursachen für Fütterstörungen bezeichnen, oder als organische und nichtorganische – und diese kommen meist in Kombinationen vor.

Die organischen Ursachen können primär bestehen, aber die ständigen Auseinandersetzungen und der tägliche Kampf bei den Mahlzeiten führen nicht selten zu einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Daher erweist sich wegen des hohen Anteils gemischter Störungen eine strenge Aufteilung als nicht sinnvoll. Wir können die Fütterstörung in Untergruppen einteilen, dazu gehören die sog. posttraumatischen Fütterstörungen. Als Beispiel: eine neurologisch-organisch bedingte Fütterstörungen durch eine Zerebralparese mit Z.n. operativen Eingriffen, langer Sondenernährung, Reflux und mundmotorischen Funktionsstörungen kann sekundär zu einer belasteten Eltern-Kind-Bindung und schwieriger Fütterinteraktion führen.

Dann die verhaltensbedingten interaktionellen Fütterstörungen, bei denen meist Kleinkinder eine Nahrungsverweigerung oder ein extrem wählerisches Essverhalten zeigen, bei angemessenem Nahrungsangebot und intensiven elterlichen Bemühungen und ohne organischen Grunderkrankung, teilweise auch begleitet von Rumination und Erbrechen. Diese Gruppe der Fütterstörungen ist gemeint, wenn man nach ICD-10 mit F98.2 kodiert.

? Wie gehen Sie in Ihrer Einrichtung therapeutisch vor?

Durch unsere SPZ-Ambulanz haben wir die Möglichkeit viele der Patienten erst einmal ambulant zu sehen und können so mit den Eltern zusammen entscheiden, ob eine ambulante Behandlung möglich ist oder eine stationäre notwendig erscheint.

Wir behandeln in unserer Klinik nach einem Konzept, das über 4 Wochen geht.

Wir arbeiten interdisziplinär, dabei mit fast täglichen psychologischen Gesprächen für die Mütter/Eltern. Die 1. Woche nutzen wir zur Beobachtung und Diagnostik. In der 2. Woche werden Veränderungen, z.B. Sondeziehen und Mahlzeiten weglassen, durchgeführt. Das Weglassen von gewohnten Flaschennahrungen, einseitigen Ernährungsweisen, oder das Ziehen einer nasogastralen Sonden oder Stillegen einer PEG-Sonde bedeutet immer auch hungern lassen, was wir auch beabsichtigen unter medizinisch kontrollierten Bedingungen und im interdisziplinären Setting. Die 3. Woche dient der weiteren Modifizierung und Vertiefung und in der 4. Woche bereiten wir das Entlassungskonzept vor.

Besonders wichtig ist dabei die Videoarbeit, da Eltern nicht selbst die Gründe und Fehler benennen können, die zu der Fütter- Essproblematik führen. Sie tun ihr Bestes, sind meist äußerst engagiert und bemüht, aber ebenso angespannt und voller Sorge und Angst, da "Nicht-Essen" Gewichtsverlust und auf Dauer auch Unterernährung und Entwicklungsgefährdung bedeutet.

? Wie beziehen Sie die Eltern ein und welche Maßnahmen nehmen die Familien mit nach Haus?

Ein Elternteil, meist die Mutter, ist immer stationär mit aufgenommen. Beteiligt an der Behandlung sind die Kollegen der Psychologie, Logopädie, Heilpädagogik, Physiotherapie, Ergotherapie, Kinderkrankenpflege unter Pädiatrischer Leitung. Die Eltern werden in allen Therapien mit einbezogen, angeleitet und beraten. Es werden Videoaufnahmen der Fütter-Essinteraktionen gemacht, Ernährungsprotokolle geführt, Essenspläne oder auch Tagespläne erarbeitet, besonders intensiv ist unsere psychologische Betreuung der Mütter/Eltern. Auch finden regelmäßige ambulante Nachbetreuungen statt.

? Wie messen Sie Ihren Erfolg und wie sind die Ergebnisse?

Erfolg der Therapie ist nicht die Gewichtszunahme oder das Erreichen von größeren Essensmengen. Behandlungsziele und damit Erfolge sind für uns

die Gestaltung von entspannteren Mahlzeiten, z.B.: das Kind bleibt beim Essen sitzen, es öffnet gerne den Mund, interessiert sich für sein eigenes Essen, isst aktiv/selbständig, es besteht Blickkontakt und eine zugewandte positive Atmosphäre zwischen Mutter und Kind, die Verbesserung der Kommunikation zwischen Eltern und Kind herzustellen, die Verbesserung der Affektregulation des Kindes, der Abbau der Ängste und Schuldgefühle der Eltern, das elterliche Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen zu stärken, die Sichtweise der Eltern verändern, damit diese wieder Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes setzen.

Das Interview führte Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck

Zur Person Dr. med. Gundula Maasberg

Medizinstudium in Gießen, Fachärztin für Kinder- und Jugend medizin am Kinderzentrum Pelzerhaken.

01 *Die Antworten beziehen sich auf die sog. Fütterstörungen im frühen Kindesalter; die Definitionen entsprechen den Leitlinien der Gesellschaft für Sozialpädiatrie und der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie.