Der Klinikarzt 2010; 39(3): 109
DOI: 10.1055/s-0030-1253148
Editorial

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Die Luft wird dünner ‐ Priorisierung: ‐ Ende unserer ärztlichen Handlungsfreiheit?

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Publication Date:
29 March 2010 (online)

 

Die Kosten unseres Gesundheitssystems explodieren. Unter der Hand gibt mancher zu, dass nicht jeder Patient das medizinisch Mögliche erhält, dass die Zweiklassenmedizin längst Realität und medizinische Rationierung keine Fiktion mehr ist. Offiziell wird das von der Politik bestritten. Faktum ist jedoch, dass wohl die meisten Kollegen, in der Klinik und in den Praxen, ihren Patienten immer noch das verordnen, was dem aktuellen Stand des medizinisch Möglichen entspricht. Es sind andere Instanzen, die uns Ärzten regelmäßig in die Quere kommen. Die niedergelassenen Kollegen kennen das Schreckgespenst der Regressforderung, und die GKV schiebt ihr Sparschwein vor, den MDK, der Verordnungen zuerst in guter bürokratischer Manier hinauszuzögern versteht und dann ablehnt, meist mit hanebüchenen sachfremden Begründungen. Nebenbei:?Die Privaten Kassen versuchen es inzwischen auch immer öfter, ihren Mitgliedern kostspielige Therapiemaßnahmen zu verweigern.

Rationierung spielt sich bis heute in einer Grauzone ab, doch das soll sich ändern. So rufen Experten nach Leitlinien, die dem Arzt exakt vorgeben, was er in welchem Krankheitsstadium darf und was wann nicht mehr. Der Staat soll festlegen, in welchen Fällen eine Therapie wirtschaftlich ist und deshalb von den Kassen bezahlt werden kann. Ich kann verstehen, dass die Ärzte von solchen Festlegungen die Finger lassen:?Also werden Bürokraten und Ausschüsse Priorisierungsleitlinien festlegen, zum Beispiel unter welchen Voraussetzungen ein Defibrillator oder ein teures Krebsmedikament verordnet werden darf.

Die Gesundheitsökonomen wissen bereits, wie sie das bewerkstelligen. Das QALY?(quality adjusted life year) soll's richten. Definiert ist diese Einheit als Zugewinn an Lebensqualität um ein Jahr, die dem Patienten volle Lebensqualität ermöglicht. Halbierte Lebensqualität - wie man das nur feststellt? - bedeutet schlicht 0,5 QALY. Ein QUALY darf nicht mehr als 1 Brutto-Jahresdurchschnittsgehalt kosten. Wenn's teurer wird, darf die Solidargemeinschaft für den Schwerkranken nicht mehr investieren.

Werden solche "kostensensible Leitlinien" Wirklichkeit, ist es aus mit der Handlungsfreiheit des Arztes. Staatliche Richtlinien geben dann vor, ob dem Patienten eine Therapie zusteht oder nicht. Anders formuliert: Ob es sich lohnt, für einen Krebskranken 50 000 Euro für ein halbes Überlebensjahr zu bezahlen. Das ist offizielle Zweiklassenmedizin. Die einen können sich den Luxus, ein wenig länger zu leben, nicht leisten, die anderen zahlen eben drauf. In Großbritannien ist dies längst medizinischer Alltag. Wie schnell ein solches System pervertiert, hat jüngst ein Fall in den USA drastisch vorgeführt. Im Bundesstaat Oregon waren einer Kasse 4 000 Euro pro Monat für eine Krebstherapie zuviel, weil der Tyrosinkinasehemmer das Leben der Krebspatientin voraussichtlich nur kurz verlängert hätte, also nach den Leitlinien unwirtschaftlich gewesen wäre. Sinnigerweise erklärte sich die Kasse aber bereit, selbstverständlich für palliativmedizinische Maßnahmen bis zum assistierten Suizid aufzukommen.

Das ist bei uns nicht möglich - wird sich die Politik entrüsten. Noch nicht. Doch die staatlich verordnete Zweiklassenmedizin steht vor der Tür. Wer Vermögen hat, kann sich auch eine Behandlung leisten, die womöglich nur ein kurzes Stück Weiterleben schenkt. Innovative medizinische Verfahren sind anfangs sehr teuer. Bald werden sie nur noch zahlungskräftigen Patienten zur Verfügung stehen.

Bislang galt für ärztliches Handeln die Prämisse, jedem Patienten ohne Ansehen seiner Person oder Umfang seines Vermögens die derzeit effizienteste medizinische Behandlung angedeihen zu lassen. Dies begründet auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Mit einer Prioritätenliste im Hinterkopf müsste ich meinem Patienten reinen Wein einschenken: dass Kostengründe mir verbieten, sein Leben zu retten oder womöglich zu verlängern. Übrigens hätte solches Verhalten auch zivilrechtlich Folgen: Der Behandlungsvertrag verpflichtet uns, dem Patienten nach bestem Wissen und den aktuellen Leitlinien eine optimale Therapie anzubieten. Auch wenn die Kassen das nicht erstatten wollen. Unterlassen wir dies, kann man von uns Schadenersatz fordern.

Wir dürfen gespannt sein, was sich die Gesundheitsökonomen noch einfallen lassen, um bei Schwerkranken Geld einzusparen, weil sich ein paar Monate Lebensgewinn nicht mehr rechnen dürfen. Vorerst steht diesen Bestrebungen noch das berühmte Nikolaus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2005 entgegen: Danach dürfen wirtschaftliche Erwägungen keine Rolle spielen, wenn es darum geht, einem Schwerkranken auch durch neue Therapiemethoden eine Lebenschance zu ermöglichen.

Wir sollten die Lösung des Problems nicht der Politik überlassen, denn damit haben wir eines Tages die Staatsmedizin, die unser Handeln komplett bestimmt. Rationalisierung muss unser Leitgedanke sein, nicht Rationierung. Wir müssen dort mit den zur Verfügung stehenden Mitteln klug umgehen, wo das sinnvoll ist und keinem schadet. Bei den Schwerkranken dürfen wir nicht sparen. Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio hat dies treffend formuliert:?"Man muss versuchen, den Menschen wieder klar zu machen, wozu die solidarische Krankenversicherung eigentlich da ist. Nämlich um Menschen in existenzieller Bedrohung zu schützen und nicht umgekehrt die Gesunden vor Kosten durch Schwerkranke."

Prof. Dr. med. Matthias Leschke, Esslingen

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