Aktuelle Dermatologie 2011; 37(4): 105
DOI: 10.1055/s-0030-1256428
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizingeschichte und „Aktuelle Dermatologie”

History of Medicine and „Aktuelle Dermatologie”M.  L.  Geiges
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Publication Date:
19 April 2011 (online)

Dr. med. Michael Lukas Geiges

In dieser Ausgabe veröffentlich die „Aktuelle Dermatologie” fünf Beiträge zur Geschichte unseres Faches. Es handelt sich um Vorträge, welche anlässlich des Arbeitstreffens der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Dermatologie und Venerologie, kurz AGDV, anlässlich der 22. Fortbildungswoche im Juli 2010 in München gehalten wurden.

Historische Beiträge in der „Aktuellen Dermatologie” – ein Widerspruch? Vielleicht weist auch die stetig wachsende Mitgliederzahl der AGDV – und zwar aus allen Altersgruppen – darauf hin, dass die Beschäftigung mit der Geschichte unseres Faches auch eine Bedeutung für den alltäglichen Umgang mit unseren Patienten hat und auch im Rahmen der aktuellen Dermatologie eine Beachtung verdient.

Es gibt viele Gründe, sich mit der Vergangenheit eines medizinischen Fachgebietes auseinander zu setzen. Es kann die Faszination an dermatologischen Geschichten sein, die das Leben schrieb. Es kann die Frage nach Bedeutung und Entwicklung von Erkenntnissen sein, welche unmittelbar oder auf Umwegen zu „der Dermatologie”, wie wir sie heute wahrnehmen und praktizieren, geführt hat. Es muss aber auch die kritische Auseinandersetzung mit historischen Entwicklungen und Ereignissen sein, welche manchmal offenkundig, aber manchmal auch indirekt oder absichtlich verdeckt Entwicklungen der dermatologischen Wissenschaft und Praxis beeinflusst und gelenkt haben.

Was kann der Gewinn einer Auseinandersetzung mit der Medizingeschichte sein? Aus Sicht des Historikers scheinen mir besonders drei Konsequenzen wichtig, welche sich aus der Beschäftigung mit der Medizingeschichte ergeben: das Bewusstsein über die Historizität der aktuellen Medizin und der eigenen Position in der Wissenschaft und Praxis; die Möglichkeit über eine historische Distanz gängige Leitbilder und Leitideen kritisch zu hinterfragen (was nicht als fachfremde Be- oder Abwertung missverstanden werden darf); und die Möglichkeit, Erfahrungen aus einer Kritik historischer Quellen auch in den Umgang mit aktuellen Wissensbeständen und Erkenntnissen einfließen zu lassen.

Die Medizingeschichte bietet eine Vielzahl von Zugängen und lebt von der Interdisziplinarität. Medizinhistoriker rekrutieren sich aus den unterschiedlichsten Bereichen: Historiker, Kulturanthropologen, Sprachwissenschaftler, Ärzte, Pflegefachpersonen … (selbstverständlich sind überall beide Geschlechter gemeint). Umso bedeutsamer ist die interdisziplinäre Kommunikation und der Austausch hinsichtlich Methoden und Forschungsstand. Die AGDV versteht sich als Arbeitsgemeinschaft, die das Interesse Einzelner an der Geschichte unseres Faches bündeln und fördern möchte. Es wird zunehmend eine Aufgabe der AGDV sein, interessierten Dermatologinnen und Dermatologen Unterstützung für eine professionelle Annäherung an die Medizingeschichte zu ermöglichen, über medizinhistorische Methodik und aktuelle Forschung zu informieren und Verbindungen zu professionellen medizinhistorischen Forschungsinstitutionen zu vermitteln.

Die oben angedeutete Vielseitigkeit des Faches Medizingeschichte widerspiegelt sich auch in den hier publizierten Beiträgen zur Dermatologiegeschichte. Bellmann und Scholz weisen auf tiefgreifende Veränderungen für die Dermato-Urologie durch Emigration und Deportation im Nationalsozialismus hin, deren Erforschung erst begonnen hat. Bendick berichtet über Säureanschläge in Kambodscha, ein in unserem deutschsprachigen Kulturraum kaum bekanntes dermatologisches Problem. Plewig erinnert mit Verweisen auf ein medizinisches Netzwerk und auf staatspolitisch um 1800 bedeutsame medizinische Probleme an den Pionier der Sozialmedizin Johann Peter Frank, wertvoll ergänzt mit Hinweisen zu Biografien und Denkmälern. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto schwieriger wird die Quellenlage und desto größer auch die Gefahr der anachronistischen Interpretation aus heutiger Sicht. Umso spannender ist der Überblick von Hannelore Mittag über die medizinische Wahrnehmung von Hautkrankheiten aus der Zeit vor der „Dermatologie”. Geiges untersucht den populären Begriff „Muttermal” und verweist auf die Theorie des Versehens und den Wandel der Interpretation von Naevi entsprechend den jeweils vorherrschenden medizinischen Konzepten im Laufe der Zeit.

Hoffentlich wecken diese Beiträge bei den Lesern die Lust, noch mehr über die Geschichte unseres Faches zu erfahren. Vielleicht möchten Sie über Themen und Bereiche aus unserer Fachgeschichte mitdiskutieren oder Aspekte aus der Geschichte selbst genauer anzuschauen oder bearbeiten. In diesem Falle laden wir Sie herzlich ein der AGDV als Mitglied beizutreten (siehe www.agdv.org) und hoffen, Sie an einem der nächsten Treffen begrüßen zu dürfen.

Ihr

Michael L. Geiges

Dr. med. Michael Lukas Geiges

Facharzt für Dermatologie und Venerologie
Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich

Hirschengraben 82

8001 Zürich, Schweiz

Email: michael@geiges.ch