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DOI: 10.1055/s-0030-1256734
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Infusionstherapie in der Intensivmedizin: Indikation, Indikation, Indikation!
Publication History
Publication Date:
05 August 2011 (online)
Hugo Van Aken
K. Zacharowski
er Einsatz von Infusionslösungen in der Intensivmedizin wird häufig als „Routinemaßnahme” empfunden. Dieses scheinbar harmlose Phänomen beinhaltet jedoch eine potenzielle Gefahr: Hinterfragt man kritisch, was sich hinter dem Begriff „Routine” verbirgt, wird offensichtlich, dass er eine Handlungsabfolge impliziert, die aufgrund häufiger Wiederholungen zur Gewohnheit geworden ist, die selten kritisch hinterfragt wird. Dies erklärt auch, warum eine Vielzahl von tradierten therapeutischen Strategien – zum Teil sogar ohne Vorliegen einer validen Evidenz – nicht angezweifelt und gelegentlich sogar als „state of the art” (fehl)interpretiert wird.
Wir sollten uns deshalb stets bewusst machen, dass die intellektuelle Grundlage die Basis unseres ärztlichen Berufes darstellt [1]. In diesem Kontext sei insbesondere die liberale Verabreichung von Infusionslösungen kritisch erwähnt. In einer kürzlich publizierten Untersuchung von Maitland et al. [2] wurde erneut gezeigt, dass der großzügige Einsatz von Infusionslösungen verheerende Auswirkungen haben kann. Es wurde eindrucksvoll berichtet, dass die Gabe von Albumin und NaCl 0,9 % (in einer Dosis von 25 – 40 ml/kg) bei kritisch kranken, hämodynamisch instabilen Kindern zu einer erhöhten Sterblichkeit führt. In diesem Kontext ist es besonders bedeutsam, dass vor der Studie postuliert wurde, dass die liberale Infusion vorteilhaft für die Patienten sei. Dies liegt darin begründet, dass sich durch dieses Vorgehen häufig bettseitige Effekte beobachten lassen (z. B. schnelle hämodynamische „Verbesserung”), von denen (falsche) Postulate abgeleitet werden, wie z. B. eine Reduktion von Morbidität und Letalität. Die Schwierigkeit, die „richtigen” therapeutischen Konzepte in der klinischen Praxis umzusetzen, liegt darin begründet, dass es z. T. nur kleine (aber bedeutsame) Unterschiede bei diversen Vorgehensweisen gibt, die prima vista nicht immer offensichtlich sind. Es ist jedoch ernüchternd, dass das Umsetzen und Etablieren selbst von evidenten wissenschaftlichen Erkenntnissen häufig viele Jahre dauert. Dass sämtliche hyperonkotische Kolloide (z. B. 20 %iges Albumin und 10 %ige Hydroxyethylstärke (HES)) sowie HES-Lösungen mit einer hohen molaren Substitution in Abhängigkeit von der Dosis nierenschädlich sind, wurde bereits vor zehn Jahren dokumentiert [3] [4]. Trotz dieser Implikationen werden derartige Lösungen auch heute noch z. T. undifferenziert und in inadäquater Dosierung eingesetzt. Der Appell von Paracelsus „Alle Dinge sind Gift und nur die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist”, ist auch im 21. Jahrhundert unangefochten gültig. Es ist deshalb essenziell, dass sich stets bewusst gemacht wird, dass auch Infusionslösungen Medikamente mit erwünschten und potenziell unerwünschten (Aus)Wirkungen sind. Die an sich selbstverständlichen und unerlässlichen Implikationen, die sich daraus ableiten, sehen wie folgt aus:
Vor der Therapie stehen die Diagnose und Indikation. Die Therapie sollte bedarfsorientiert und unter Berücksichtigung der Co-Morbiditäten sowie der zu Grunde liegenden Pathophysiologie stattfinden. Bei fehlender Evidenz sollten physiologische Grundkenntnisse berücksichtigt werden. Die Definition von individuellen therapeutischen Zielen ist essenziell. Pharmakologische und pharmazeutische Dosislimitierungen sollten beachtet werden. Der Therapieerfolg muss kontrolliert werden.
Um die Bedeutung dieser Argumente zu veranschaulichen, sei hier beispielhaft der klinische Einsatz eines Betablockers dargestellt. Um eine Parallele für die „korrekte” Infusionstherapie zu ziehen, wird im Folgenden ein „Wissenstransfer” durchgeführt:
Die Indikation für Betablocker ist die Tachykardie (und nicht die Bradykardie). Bei der Infusionstherapie ist es in Analogie bedeutsam, dass die korrekte Diagnose gestellt wird und ein differenzierter Einsatz der Präparateklassen erfolgt [5]. Genau wie Betablocker nicht unkritisch (hinsichtlich Indikation und Dosis) und ohne Kenntnis der Begleiterkrankungen eingesetzt werden sollten, müssen auch Infusionslösungen kritisch und wohldosiert verabreicht werden. Hier sollte unbedingt zwischen a) der Basisinfusion von Kristalloiden zum Ausgleich des Flüssigkeitsbedarfs und b) der Volumentherapie mit Kolloiden zum Ausgleich eines intravasalen Volumenmangels und zur Vorlastoptimierung differenziert werden [5]. Genauso wichtig ist es, dass das Fehlen der Evidenz nicht als Evidenz des Fehlens falsch interpretiert wird [6]. Hier sei besonders erwähnt, dass sich nicht alle ärztlichen Interventionen auf harte Evidenz stützen lassen. Deshalb ist es wichtig, dass in diesen Fällen rationale Entscheidungen unter Berücksichtigung der zu Grunde liegenden (Patho)Physiologie getroffen werden. Auch wenn es keinen eindeutigen Beweis dafür gibt, dass das Senken der Herzfrequenz von 140 auf 120 oder 100 Schläge pro Minute vorteilhaft ist, würden es die meisten ärztlichen Kollegen dennoch anstreben, da ein Ökonomisieren der Herzleistung als sinnvoll erachtet wird. Da ebenfalls hinreichend bekannt ist, dass eine Flüssigkeitsüberladung, die zur endothelialen Barrierestörung und konsekutiven Ödembildung führt [7], mit Negativeigenschaften assoziiert ist [8 10], sollten therapeutische Strategien eingesetzt werden, die dieses Problem nach Möglichkeit verhindern können. Dazu zählt der rationale und kombinierte Einsatz von Kristalloiden und isoonkotischen Kolloiden (z. B. 6 % HES 130). Werden Betablocker z. B. mit dem Ziel eingesetzt, die Herzfrequenz von 120 auf 80 Schläge pro Minute zu senken, dann wird die Therapie nach Erreichen dieses Ziels in der Regel beendet. Würde diese Intervention ohne kritische Evaluierung aggressiv fortgeführt werden, wäre das Ende möglicherweise fatal. Bei der Volumentherapie bedeutet dies, dass Kolloide lediglich zum Ausgleich einer Hypovolämie und eine hämodynamische Stabilisierung eingesetzt werden sollten. Ist dieses Ziel erreicht, sollten primär Kristalloide für das Aufrechterhalten des Basisbedarfs zum Einsatz kommen. Hier stellt nicht nur das Berücksichtigen der Indikation, sondern auch das Beachten von Kontraindikationen eine conditio sine qua non dar. Werden exzessive Mengen hyperonkotischer HES-Lösungen bei hämodynamisch stabilisierten Patienten mit vorbestehenden Kontraindikationen (z. B. dialysepflichtige Niereninsuffizienz) eingesetzt, dann erscheint ein negativer Effekt auf die Nierenfunktion nicht besonders überraschend.
In der aktuellen Ausgabe der Intensivmedizin Up2date präsentieren Dr. Ertmer und Co-Autoren eine Übersicht zur „Integration physiologischer Grundlagen und evidenzbasierter Fakten in der Flüssigkeits- und Volumentherapie” [11]. Neben einer ausführlichen Erläuterung möglicher Komplikationen einer inadäquaten Flüssigkeitstherapie, stellen die Autoren aktuelle Daten zur Flüssigkeitstherapie bei definierten Krankheitsbildern (z. B. Sepsis, akutes Nierenversagen, akutes Lungenversagen) dar. Insbesondere gehen die Autoren hierbei auf die Notwendigkeit einer Indikation zur Volumentherapie (dies bedeutet in der Regel das Vorliegen einer Hypovolämie) ein.
Für eine zeitgemäße und rationale Therapieentscheidung ist es essenziell, unser ärztliches Handeln stets kritisch zu hinterfragen. Dabei sollten physiologische und pharmakologische Grundprinzipien unbedingt berücksichtigt werden. In diesem Kontext gilt insbesondere: Indikation, Indikation, Indikation!
Literatur
- 1 Miller R D. The place of research and the role of academic anaesthetists in anaesthetic departments. Best Pract Res Clin Anaesthesiol. 2002; 16 353-370
- 2 Maitland K, Kiguli S, Opoka R O et al. Mortality after Fluid Bolus in African Children with Severe Infection. N Engl J Med. 2011; 364 2483-2495
- 3 Schortgen F, Lacherade J C, Bruneel F et al. Effects of hydroxyethylstarch and gelatin on renal function in severe sepsis: a multicentre randomised study. Lancet. 2001; 357 911-916
- 4 Schortgen F, Girou E, Deye N, Brochard L. The risk associated with hyperoncotic colloids in patients with shock. Intensive Care Med. 2008; 34 2157-2168
- 5 Van Aken H, Jacob M, Westphal M, Zwissler B. Infusionstherapie in der Anästhesiologie und Intensivmedizin: Gestern, heute und morgen. Anästhesiologie und Intensivmedizin. 2009; 6 338-345
- 6 Jacob M, Chappell D, Rehm M. Perioperative fluid administration: another form of „work-life balance”. Anesthesiology. 2011; 114 483-484
- 7 Chappell D, Jacob M, Hofmann-Kiefer K et al. A rational approach to perioperative fluid management. Anesthesiology. 2008; 109 723-740
- 8 Brandstrup B, Tonnesen H, Beier-Holgersen R et al. Effects of intravenous fluid restriction on postoperative complications: comparison of two perioperative fluid regimens: a randomized assessor-blinded multicenter trial. Ann Surg. 2003; 238 641-648
- 9 Payen D, de Pont A C, Sakr Y et al. A positive fluid balance is associated with a worse outcome in patients with acute renal failure. Crit Care. 2008; 12 74
- 10 Boyd J H, Forbes J, Nakada T A et al. Fluid resuscitation in septic shock: A positive fluid balance and elevated central venous pressure are associated with increased mortality. Crit Care Med. 2011; 39 259-265
- 11 Ertmer C, Rehberg S, Westphal M. Flüssigkeits- und Volumentherapie in der Intensivmedizin – Integration physiologischer Grundlagen und evidenz-basierter Fakten. Intensivmed Up2date. 2011; 7 181-196
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hugo Van Aken
Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie
und operative Intensivmedizin
Albert-Schweitzer-Str. 33
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48149 Münster
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Fax: 0251-8348667
Email: hva@uni-muenster.de
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. K. Zacharowski
Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Klinikum der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
Email: Kai.Zacharowski@Kgu.de