Z Sex Forsch 2010; 23(3): 262-267
DOI: 10.1055/s-0030-1262581
DEBATTE

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Ende des Schweigens

Irene Berkel
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Publication Date:
23 September 2010 (online)

Seit mehr als drei Jahrzehnten wird der unzureichende Schutz von Kindern und Jugendlichen vor dem sexuellen Begehren (meist) männlicher Erwachsener medial als eine der größten gesellschaftlichen Bedrohungen verhandelt und inszeniert. Obwohl die Dunkelziffer – wie stets beteuert – seit Jahren enorm hoch ist oder sogar steigt, löst jeder neu ans Licht der Öffentlichkeit dringende Fall eine Welle ungläubigen Staunens und erregter Empörung aus. In den zahlreichen vorausgegangenen Diskussionen, die sich an einzelnen extremen und spektakulären Fällen wie Marc Dutroux, Natascha Kampusch oder Josef Fritzl, an der Kinderpornografie und deren Konsumenten, an pädophilen Szenen in der virtuellen Welt von „Second Life“ u. a. m. entzündeten, trat auch die phantasmatische Seite des Diskurses über sexuellen Missbrauch offen zutage. Die ambivalenten, zwischen Abscheu und Faszination schwankenden Präsentations- und Rezeptionsformen verweisen auf die projektive Bewältigung eines unbewussten Konflikts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche und Auflösungstendenzen, die das Generationenverhältnis transformieren. Auch bei den aktuellen Fällen haben sich die Medien in der Wahl der Schlagzeilen gegenseitig überboten und die „schmutzigen“ Vorgänge lustvoll illustriert. Inmitten der medialen Hysterie und der Lust am Skandal sind indessen auch andere Stimmen zu vernehmen, die um eine sachlichere Aufklärung der Ereignisse bemüht sind. Ob dies ein Indiz dafür ist, dass unbewusste Anteile des Missbrauchsdiskurses eine Übersetzung finden, wird sich zeigen.

Die gegenwärtige Debatte unterscheidet sich von früheren in mehreren Punkten: Angeklagt sind dieses Mal nicht Väter- oder Stiefväter, sondern Lehrer und Erziehungsinstitutionen, die aufgedeckten Taten sind verjährt und die Betroffenen sprechen für sich selbst – sachlich und eloquent wie u. a. Matthias Katsch, der Vertreter der betroffenen ehemaligen Schüler des Canisius-Kollegs, mehrfach bewiesen hat. In der durch die jüngsten Missbrauchsfälle angestoßenen Diskussion steht mehr auf dem Spiel als die einzelnen Taten, weshalb trotz sachlicherer Töne die Lage weiterhin angespannt ist. Die soziale Kontrolle, die mit der Diskursivierung des sexuellen Missbrauchs etabliert wurde und wird, nahm auf der Opferseite den Weg von den weiblichen zu den (im aktuellen Fall) männlichen Kindern, auf der Täterseite vom gefährlichen Fremden über den nahen Vertrauten zum Lehrer und es ist absehbar, dass sich die Liste weiter fortsetzen wird. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis Schulen und Internate als Horte des sexuellen Missbrauchs entlarvt würden.

Literatur

  • 1 Berkel I. Mißbrauch als Phantasma. Zur Krise der Genealogie. München: Wilhelm Fink 2006
  • 2 Berkel I. Zur ambivalenten Rezeption von sexuellem Missbrauch. In: Werkblatt.  Zeitschrift für Psychoanalyse & Gesellschaftskritik. 2007;  24 99-109
  • 3 Berkel I. Die Erosion des Inzestverbots. In: Berkel I. Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens. Gießen: Psychosozial-Verlag 2009; 87–104
  • 4 Freud S. Selbstdarstellung. In: Freud S. Gesammelte Werke, Bd. 14. Frankfurt / M.: Fischer 1991; 33–96 [Erstveröffentlichung 1925]

Dr. I. Berkel

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