Z Sex Forsch 2010; 23(3):  285-292
DOI: 10.1055/s-0030-1262620
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Publication Date:
23 September 2010 (online)

Norbert F. Schneider (Hrsg.): Lehrbuch Moderne Familiensoziologie. Theorien, Methoden, empirische Befunde. Opladen, Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2008. 327 Seiten, mit Abbildungen, EUR 19,90[1]

„Die Familie“ gibt es nicht, behauptet Norbert F. Schneider in seinen einleitenden Bemerkungen zu dem von ihm herausgegebenen „Lehrbuch Moderne Familiensoziologie“. Der Band richtet sich an Studierende wie Fachinteressierte gleichermaßen. Er gliedert sich in 14 Kapitel, die von unterschiedlichen AutorInnen verfasst sind und sich jeweils mit Einzelaspekten bzw. Forschungsrichtungen der Familiensoziologie beschäftigen. Grob lassen sich die Kapitel in drei Blöcken zusammenfassen: Geht es im ersten um die Grundlagen der Disziplin, d. h. Begriff, Methoden, Theorien und Geschichte der Familiensoziologie, beleuchten die Kapitel des zweiten Blocks verschiedene Facetten der These vom Wandel familialer Lebensformen. Im dritten Block werden spezielle Themengebiete vorgestellt: Beziehungen in der Familie, Gewalt und Armut, Sozialstruktur und Sozialpolitik, das Geschlechterverhältnis. Abschließend werden mögliche Trends und Zukunftsentwicklungen skizziert, die ein Ende genauso wie eine Re-Etablierung konventioneller Familienverhältnisse als möglich erscheinen lassen. Die Familie bleibt uns womöglich doch noch eine Zeit erhalten.

Was oder wer aber ist genau unter Familie zu verstehen? Diese Definitionsfrage berührt den Kern der Familienforschung. In besonderer Weise unterliegt die Familiensoziologie der Gefahr, in der Analyse ihren Gegenstand immer zugleich mit zu konstruieren und gesellschaftliche Normen zu reproduzieren und wissenschaftlich zu legitimieren. Denn häufig wird unter Familie die in den 1950er Jahren entstandene Ernährer-Hausfrau-Kleinfamilie verstanden, bestehend aus einem verheirateten heterosexuellen Paar mit Kind(ern). Diese Familienform wird verabsolutiert und als Norm gesetzt, was zur Folge hat, dass eine Vielzahl anderer familialer Lebensformen wie Alleinerziehende, Paarbeziehungen ohne Kinder, homosexuelle Paarbeziehungen etc. entweder gar nicht berücksichtigt werden oder aber vor allem als Abweichungen von der Normfamilie und somit defizitäre Formen aufgefasst werden. So konstatiert Norbert Schneider auch in seinen einführenden Betrachtungen, dass dem Begriff der Familiensoziologie häufig etwas Konservatives und Traditionelles anhafte und angemessener eigentlich von einer „Soziologie der Familie und privaten Lebensformen“ (S.11) zu sprechen sei. Ganz offensichtlich ist die Bestimmung dessen, was Familie ist, eines der Grundprobleme, das in den einzelnen Artikeln mal mehr, mal weniger, mal überhaupt nicht reflektiert wird. Johannes Huinink formuliert in seinem Überblicksartikel in Kapitel 2 eine pragmatische Definition, nach der Familie „als eine besondere Form sozialer Beziehungsstrukturen“ (S. 23) verstanden werden kann. Huinink nennt als drei für die Forschung relevante Perspektiven die makrosoziologische, die beziehungssoziologische sowie die lebenslaufsoziologische Individualperspektive, die jeweils das Ziel verfolgen, Beziehungs- und Familienentwicklung als Resultat sowohl individueller Entscheidungen als auch institutioneller Rahmungen zu begreifen. Die Methoden der Familienforschung sind mehrheitlich quantitativ, wie Martin Abraham und Johannes Kopp ausführen. Vor allem deskriptive Verfahren wie Längsschnittstudien erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Autoren stellen jedoch auch qualitative Methoden dar und geben insgesamt einen verständlichen und ausgewogenen Überblick über die angewandten Methoden. Die Theorien der Familiensoziologie sind überwiegend ökonomischer Natur, wie dem Beitrag von Paul B. Hill und Johannes Kopp zu entnehmen ist. Dass diese aber gerade in individuellen Entscheidungsfragen nur begrenzte Reichweite haben, wird in anderen Artikeln deutlich. Hochinteressant ist vor allem der Beitrag von Andreas Gestrich zur Sozialgeschichte in der Neuzeit, weil der historische Blick konventionelle Annahmen zur Familie stark relativiert. So hat sich die bürgerliche Kleinfamilie weniger geradlinig aus einer vorbürgerlichen Großfamilie entwickelt als viele Modernisierungstheorien suggerieren. Die Rede von der vorindustriellen Großfamilie ist in ihrer Pauschalität nicht haltbar. Auch existieren unterschiedliche Studien dazu, welche soziale Klasse das Ideal der Liebesheirat durchgesetzt hat. Einige Studien belegen, dass dieses Ideal schon vor der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben und praktiziert wurde. Wie die historische Familienforschung sind auch viele Studien zum aktuellen Wandel familialer Lebensformen europäische Vergleichsstudien. Wie sehr die Familienforschung in ihren Ursprüngen normativ dem konservativen Ehe-Ernährer-Familienmodell verhaftet war, lässt sich auch an der in diesem Forschungszweig dominanten These vom Wandel hin zu einer Pluralisierung der Lebens- und Familienformen ablesen. Dass differenzierende Forschungen zu einer Relativierung dieser These kommen, wird ausführlich in den Aufsätzen des zweiten Blocks thematisiert. Michael Wagner macht in seinem Beitrag deutlich, dass die Befunde, die eine Pluralisierung bestätigen oder aber in Frage stellen, jeweils stark davon abhängen, wie Lebensformen überhaupt kategorisiert und gemessen werden. Differenziert beschreiben entsprechend Martina Rupp und Hans-Peter Blossfeld verschiedene Datensätze europäischer Länder zu Partnerwahl, Heirat, Elternschaft und Trennung und stellen fest, dass sich im Vergleich bezogen auf die Vielfalt genauso Ähnlichkeiten wie Unterschiede in den Entwicklungen der Länder feststellen lassen. Während sich beispielsweise in den skandinavischen Ländern nicht-eheliche Lebensgemeinschaften durchsetzen, die Geburtenrate hier aber relativ hoch ist, ist in den südeuropäischen Ländern die eheliche Lebensgemeinschaft weiterhin die stark dominante Lebensform, die Geburtenrate jedoch sogar noch ein wenig niedriger als in der BRD. Auch für einen Blick auf Unterschiede in Ost- und Westdeutschland gilt es zu differenzieren und verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, wie Michaela Kreyenfeld und Dirk Konietzka zeigen. Sie machen deutlich, dass es zwar Differenzen in der Geburten- und Familienentwicklung in Ost und West gibt, dass die Entwicklungen in beiden Regionen aber gleichermaßen als Ausdruck eines umfassenderen familiendemografischen Wandels zu interpretieren sind.

Auch der das Geschlechterverhältnis thematisierende Beitrag von Ilona Ostner wählt die Perspektive eines europäischen Vergleichs, wenn er die Frage danach stellt, ob und inwiefern Geschlecht Chancen innerhalb von Familien gleich oder ungleich strukturiert. Schade ist, dass der Fokus dabei letztlich doch einseitig auf die Rolle und Funktion der Frauen resp. Mütter gelegt wird, obwohl gerade in diesem Bereich die Dynamiken zwischen Männern und Frauen, d. h. die geschlechtsdifferenzierenden Tätigkeiten, Zuschreibungen und Erwartungen interessiert hätten. Implizit wird hier somit die Gleichung Geschlecht = Frauen und Frauen = Mütter reproduziert. Ergebnis der Datenanalyse ist jedenfalls, dass sich hinsichtlich einer Angleichung der Geschlechternormen Fortschritt wie Stillstand feststellen lassen. Insbesondere die Beteiligung an der Erwerbs- und Familienarbeit ist weiterhin ungleich verteilt.

Das Beharrungsvermögen von Geschlechternormen erklärt sich auch aus deren institutioneller und kultureller Verankerung. Hieran ist nicht zuletzt die Familienpolitik beteiligt, die sich in Deutschland in den 1950er Jahren etablierte und in dieser expliziten Form außerdem nur noch in Frankreich existiert, wie Klaus Peter Strohmeier in seinem Artikel ausführt. Es handelt sich dabei um politische Maßnahmen, die Einfluss auf den Lebenszusammenhang und die Lebensführung nehmen wollen. Für die bundesdeutsche Familienpolitik stand der Schutz der Ehe und der traditionellen Familie an vorderster Stelle, entsprechend liefen die meisten direkten und indirekten Transfers zugunsten dieser Lebensform. Erst in den letzten Jahren konzentrieren sich die Maßnahmen der Familienpolitik vermehrt auf das „Problem“ des demographischen Wandels und den Geburtenrückgang – wobei die Geburtenquote seit ca. 30 Jahren auf dem gleichen (niedrigen) Niveau ist.

Das Lehrbuch enthält eine Fülle wichtiger Studien und Thesen aus der Familiensoziologie. Die meisten Beiträge sind sehr dicht geschrieben und für Studierende des Grundstudiums mitunter recht voraussetzungsvoll. Auch überwiegen in der Zusammenschau quantitative Vergleichsstudien. Qualitative Ansätze sowie gesellschaftstheoretische und kulturtheoretische Forschungen und viele aktuelle Studien zu Liebe, Sexualität und Paardynamiken sind hingegen unterrepräsentiert. Insgesamt liefert der Band aber profunde Einsichten in eine spezielle Soziologie, die gerade am Gegenstand Familie fließende Übergänge zur Psychologie hat.

Imke Schmincke (München)

  • 1 Schneider Norbert F. Lehrbuch Moderne Familiensoziologie. Theorien, Methoden, empirische Befunde. Opladen, Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich; 2008. 327 Seiten, mit Abbildungen, EUR 19,90
  • 2 Matthiesen Silja, Block Karin, Mix Svenja, Schmidt Gunther. Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Eine Studie im Auftrag des Bundesverbandes der pro familia. Köln: BZgA; (Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung; Bd. 32) 2009. 381 Seiten, mit Abbildungen, EUR 11,–
  • 3 Becker Sophinette, Hauch Margret, Leiblein  Helmut, Hrsg. Sex, Lügen und Internet. Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven. Gießen: Psychosozial-Verlag; (Beiträge zur Sexualforschung; Bd. 93) 2009. 185 Seiten, mit Abbildungen, EUR 22,90
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