PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(4): 357
DOI: 10.1055/s-0030-1265913
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interkulturelle Psychotherapie – Von der Polarisierung zur Sensibilisierung

Yesim  Erim, Maria  Borcsa
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Publication Date:
02 December 2010 (online)

Der Einfluss der Kultur auf unser Erleben und Verhalten wird in der Behandlung von MigrantInnen wie in keinem anderen Bereich deutlich. Veränderungen sind meist nicht nur individueller Natur, sondern sie kollidieren oft mit grundlegenden kulturellen Werten, die bisher leitend waren. Darüber hinaus sind in der interkulturellen Begegnung meistens die kulturellen Zugehörigkeiten von Patient und Therapeut oder von verschiedenen Patienten (Gruppentherapie) angesprochen und es kommt bald zu einer Konkurrenz derselben. Dieser Wettbewerb bezieht sich nicht nur darauf, welche Kultur die wertvollere ist, sondern auch darauf, nach welcher kulturellen Vorgabe Veränderung zu erfolgen hat. Da die kulturelle Zugehörigkeit zu den Werten gehört, die unser Selbstverständnis und unseren Selbstwert maßgeblich bestimmen, kann die beschriebene Konkurrenz der Kulturen polarisieren. Die Aufgabe der Integration von kultureller Andersartigkeit in der Psychotherapie ist eine schwierige, sie kann zu Überforderung, Krisen, Hilflosigkeit und frühzeitigem Abbruch der Behandlung führen und dabei darf Veränderung nicht forciert werden.

Wenn Migranten aus einer Kultur kommen, die Hilfebeziehung und Veränderung bisher nicht im Zweiergespräch, sondern z. B. in gemeinsamen Anstrengungen von Familien oder auch von Nachbarn, Freunden, Heilern platziert haben, werden Klienten in der klassischen einzeltherapeutischen Situation verunsichert sein. Hier ist es wichtig „die Anfangssympathie” der Klienten zu erheischen und zu planen, welche Haltungen und Strategien in deren Behandlung hilfreich sind. Damit ist ein wichtiger Schritt zur „kultursensiblen” Haltung getan. Diese Anfangssympathie und die Zuversicht, mit der eigenen Kultur und der Andersartigkeit Akzeptanz zu finden, scheinen wesentliche Wirkfaktoren in der muttersprachlich-bilingualen Psychotherapie zu sein.

Da Migranten oft auch mit schichtspezifischen Problemen oder den besonderen Problemstellungen und Traumatisierungen nach Kriegs- und Fluchterfahrungen zur Therapie kommen, bleibt eine Auseinandersetzung des Therapeuten mit diesen besonderen sozioökonomischen Bedingungen nicht aus. Auch muss der Therapeut in dieser Situation der Ressourcenknappheit bedacht sein, aus den vorhandenen personalen, ethnischen und ökonomischen Ressourcen das Beste zu machen und neue zu akquirieren. Die interkulturelle Psychotherapie erfordert in dieser Hinsicht eine engagierte Haltung des Therapeuten.

Allem Anschein nach erfordert die interkulturelle psychotherapeutische Arbeit die Beachtung zusätzlicher Parameter. Therapeuten, die diesem Prinzip folgen, werden mit der Erweiterung ihres kulturellen Horizonts belohnt (Gadamer) und nehmen wahr, dass die eigene Kultur, das menschliche Wissen immer auf Vorurteilen beruht, perspektivisch, parteiisch, fehlerhaft und immer in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Das Verstehen entsteht immer in den Grenzen unseres kulturellen Horizonts. Unser psychotherapeutischer Horizont entwickelt sich mit dem Dialog, den wir mit Patienten aus anderen Kulturen führen. Die Horizonterweiterung, die Gadamer beschreibt, entsteht, wenn wir uns bemühen, den Anderen zu verstehen, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Die Voraussetzung für diesen Dialog ist, die Perspektive des Anderen ernst zu nehmen und davon auszugehen, dass der Andere potenziell wahre und wichtige Dinge zu sagen hat; und das, glauben wir, ist die Basis jeder psychotherapeutischen Begegnung.