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DOI: 10.1055/s-0030-1266095
Gedächtnissprechstunden in der gemeindepsychiatrischen Versorgung
Memory Clinics in Community Mental Health CarePublication History
Publication Date:
05 May 2011 (online)
Pro
1981 formulierte die WHO die Forderung nach Einrichtungen zur Frühdiagnose von Demenzen [1]. Seither ist das Thema im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung angekommen, und Demenzdiagnostik wird an verschiedenen Stellen unseres Gesundheitssystems durchgeführt. Der Aufwand, der hierbei betrieben wird, variiert außerordentlich: Am einen Ende der Skala (meist in der Hausarztpraxis) steht eine orientierende Untersuchung, ergänzt durch einen Screeningtest. Vor allem neurologische Praxen erheben oft einen ausführlichen neurologischen Status, ergänzt um eine Bildgebung und evtl. weitere apparative Untersuchungen. In Universitätskliniken, sofern sie einen Schwerpunkt in der Demenzuntersuchung haben, werden möglicherweise über die neurologische, körperliche und natürlich psychiatrische Untersuchung hinaus umfangreiche Testbatterien und nuklearmedizinische Verfahren zum Einsatz gebracht, vielleicht noch ergänzt um differenzierte laborchemische und genetische Parameter. Neben einer präzisen Diagnosestellung beforschen universitäre Einrichtungen Diagnostik, Ursachen und Therapie von Demenzen, was den erheblichen Untersuchungsumfang begründet.
In den Universitätskliniken entstanden auch die ersten Gedächtnisambulanzen, die sich auch Memory-Klinik oder neudeutsch Memory Clinic nennen. In den letzten Jahren entstanden Gedächtnisambulanzen außerhalb universitärer Einrichtungen. Dezentrale Gedächtnisambulanzen sind ein notwendiger Baustein für eine angemessene Betreuung Demenzkranker. Hierfür spricht eine ganze Zahl von Gründen:
Demenzen sind keine seltenen Erkrankungen und werden an Häufigkeit noch zunehmen. Deshalb sind wohnortnahe Untersuchungsmöglichkeiten nötig. Dies gilt umso mehr, weil Ältere in ihrer Mobilität oft beeinträchtigt sind. Schon eine Entfernung von 50 km überfordert sie oft, sodass im ländlichen Bereich Facharztbesuche nicht selten völlig unterbleiben, weil die Fahrt dorthin nicht mehr organisiert werden kann.
Eine frühe und präzise Diagnosestellung ist für den Krankheitsverlauf wichtig, bietet sie doch die Möglichkeit, sich beizeiten auf die Erkrankung einzustellen, die – zugegebenermaßen noch begrenzten – Therapieoptionen wahrzunehmen und damit möglicherweise spätere Eskalationen zu vermeiden. Sie erfordert einen höheren Untersuchungsaufwand und kann ohne Spezialisierung nicht gelingen.
Aus der Diagnosestellung resultiert ein Behandlungs- und Unterstützungsbedarf mit spezieller Fachkompetenz einerseits, andererseits aber auch mit guter Erreichbarkeit. Neben einer angemessenen psychiatrischen Medikation – vom Hausarzt in der Regel kaum zu leisten – sind vor allem psychosoziale Interventionen nötig. Das können Gruppenangebote für Betroffene und Angehörige sein, Schulungen, aber auch die Vermittlung konkreter Hilfen wie Nachbarschaftshilfe, Betreuungsgruppen, Tagesbetreuung und Sozialstation und manches mehr. Solche Hilfen zu initiieren, gelingt nur in enger Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflege. Die Altenhilfe ist inzwischen hochgradig vernetzt, und auch eine Gedächtnisambulanz kann nur optimal arbeiten, wenn sie die anderen beteiligten Anbieter von Unterstützung kennt und für einen Gesprächsaustausch zur Verfügung steht. Damit kann dem erklärten Wunsch Älterer, in der eigenen Wohnung zu bleiben, heimatnah besser Rechnung getragen werden. Wenn ein Umzug ins Pflegeheim trotzdem sinnvoll oder notwendig wird, dann oft nicht, weil eine häusliche Unterstützung nicht zur Verfügung steht, sondern, weil mögliche Hilfeangebote und ihre Inanspruchnahme und Akzeptanz durch den Betroffenen nicht zur Deckung zu bringen sind. Hier kann die Memory-Klinik vor Ort besser intervenieren als eine heimatferne Universitätsambulanz.
Je nach Region fehlen einzelne Unterstützungsangebote, z. B. manchmal Schulungen für pflegende Angehörige, Selbsthilfegruppen und Gesprächskreise. Trotz strukturierter psychoedukativer Programme für Demenzkranke im Frühstadium [2] werden solche Gruppen bisher nur sporadisch durchgeführt. Gedächtnisambulanzen haben hier auch die Rolle des Impulsgebers oder übernehmen selbst therapeutische Angebote, die sonst fehlen würden.
Die Einrichtung einer qualifizierten Gedächtnisambulanz ist an Rahmenbedingungen gebunden. Schwerere Demenzen sind auch für nicht spezialisierte Untersucher unschwer erkennbar, aber für die Diagnosestellung von Demenzen im Frühstadium reichen weder ein Screeningtest noch die neurologische Untersuchung aus. Die S3-Leitlinie Demenz [3] gibt Hinweise; aus zahlreichen Studien (z. B. [4]) konvergieren die Ideen, wie viel Untersuchung für eine ausreichende Diagnosesicherheit nötig ist. Der Zeitaufwand für eine leitliniengerechte Untersuchung bewegt sich im Bereich von 4 Stunden bis zur Diagnosestellung.
Eine leitlinienkonforme Untersuchung erfordert Untersuchungsverfahren, die in Deutschland auch in der Peripherie vorhanden sind. Spezialverfahren, z. B. nuklearmedizinische Untersuchungen, können für Einzelfälle erwogen werden. Für die Routine sind sie verzichtbar.
Eine qualifizierte Demenzdiagnostik ist also apparativ nicht an universitäre Zentren gebunden. Für die Auswahl geeigneter Untersuchungsinstrumente und eine korrekte Bewertung der Ergebnisse ist die Mitwirkung eines neuropsychologisch erfahrene Psychologen unabdingbar. Eine regelmäßige kollegiale Supervision der Arbeit ist notwendig, denn die Entwicklung gut validierter Testsysteme für die Frühdiagnostik steckt noch in den Anfängen.
Damit nicht universitäre Gedächtnisambulanzen eine gute Untersuchungsqualität bieten, muss ein qualitativer Mindeststandard sichergestellt sein. (Das gilt sinngemäß natürlich auch für Universitätsambulanzen, die aber aufgrund ihrer forscherischen Ausrichtung solche Standards auch heute schon oft mehr als erfüllen.) Sehr wünschenswert ist es auch, Gedächtnisambulanzen eine geschützte Benennung zu geben, damit der Qualitätsstandard auch nach außen hin transparent ist. Ein im letzten Jahr in Basel begründeter, europaweit ausgerichteter Interessenverband der Memory-Kliniken könnte hier eine wichtige Rolle spielen [5].
Die Frage der Finanzierung ist nicht überall gelöst. Psychiatrische Institutsambulanzen können eine qualifizierte Untersuchung kostendeckend durchführen, zumal die dort vorhandene multiprofessionelle Zusammenarbeit auch Psychologen leicht integrieren kann.
Dies ist im ambulanten Bereich mit EBM und GOÄ nicht möglich; es gibt bisher nicht einmal neuropsychologische Ziffern, und die „gedeckelten” Behandlungsziffern reichen für die Untersuchung nicht aus. Wenn man Gedächtnisambulanzen nicht an psychiatrische Kliniken binden will, dann muss hier nachgebessert werden.
Natürlich sind damit Gedächtnisambulanzen an Universitätskliniken keineswegs überflüssig, denn die Untersuchungs- und Therapieverfahren müssen dringend weiterentwickelt werden. Wo eine Universitätsklinik vorhanden ist, ist auch wünschenswert, dass die dortige Gedächtnisambulanz in die gemeindepsychiatrische Versorgung eingebunden ist. In den übrigen Städten und Regionen Deutschlands jedoch muss das Angebot zu einer qualifizierten Demenzuntersuchung und Behandlung durch dezentrale Gedächtnisambulanzen weiter aufgebaut werden.
Literatur
- 1 Stoppe G. Bedeutung der Memorykliniken / Gedächtnisambulanzen. Psychiatrie. 2009; 1 42-45
- 2 Werheid K, Thöne-Otto A. Alzheimer-Krankheit. Ein neuropsychologisch-verhaltenstherapeutisches Manual.. Weinheim; 2010. ISBN: 978-3-621-27707-5
- 3 Deuschl G, Maier W. S3-Leitlinie „Demenzen”.. Enthalten auf: http://www.dgn.org/inhalte-kapitel/1192-leitlinien-der-dgn-s3-leitlinie-demenzen.html 2009
- 4 Diehl J, Monsch A U. Diagnostik und Therapie demenzieller Erkrankungen – Erfahrungen aus deutschsprachigen Memory-Kliniken. Neurogeriatrie. 2005; 1 1-10
-
5 http://www.mc-dach.org/de/european-memory-clinics-association
- 6 Passmore A P, Craig D A. The future of memory clinics. The Psychiatrist. 2004; 28 375-377
- 7 S3-Leitlinie „Diagnose und Behandlungsleitlinie Demenz”.. DGPPN, DGN, Hrsg Springer Verlag; 1. A 2010
- 8 Jessen F, Wiese B, Cvetanovska G et al. Patterns of subjective memory impairment in the elderly: association with memory performance. Psychol Med. 2007; 37 1753-1762
- 9 Boustani M et al. Measuring primary care patients’ attitudes about dementia screening. Int J Geriatr Psychiatry. 2008; 23 812-820
- 10 Eschweiler G W, Leyhe T, Klöppel S et al. Neue Entwicklungen in der Demenzdiagnostik. Dtsch Arztebl Int. 2010; 107 677-683
- 11 Mahlberg R. Diagnostik und Differenzialdiagnose von Demenzerkrankungen. Dtsch Ärzteblatt Int. 2010; 107 675-676
- 12 Jelic V, Kivipelto M, Winblad B. Clinical trials in mild cognitive impairment: lessons for the future. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2006; 77 429-438
- 13 Reynolds III C F et al. Maintenance Treatment of Depression in Old Age. Arch Gen Psychiatry. 2011; 68 51-60
- 14 Clarfield A M. The decreasing prevalence of reversible dementias: an updated meta-analysis. Archives of internal medicine. 2003; 163 2219-2229
- 15 Walstra G JM, Teunisse S, van Gool W A et al. Reversible dementia in elderly patients referred to a memory clinic. J Neurol. 1997; 244 17-22
- 16 Logiudice D et al. Do memory clinics improve the quality of life of carers? A randomized pilot trial. Int J Geriatr Psychiatry. 1999; 14 626-632
- 17 Tangney C. Adherence to a Mediterranean-type dietary pattern and cognitive decline in a community population. American Journal of Clinical Nutrition. 2011; 93 1-7
- 18 Amieva H et al. What Aspects of Social Network Are Protective for Dementia? Not the Quantity But the Quality of Social Interactions Is Protective Up to 15 Years Later. Psychosom Med. 2010; 72 905-911
Dr. med. Michel Marpert
Ärztlicher Leiter der Alterspsychiatrischen Institutsambulanz und Memory-Klinik im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg
Email: michel.marpert@zfp-zentrum.de
Dr. Martin Roser
Chefarzt, Kreiskliniken Esslingen gGmbH, Klinik Nürtingen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Stuttgarter Straße 2
72622 Nürtingen
Email: m.roser@kk-es.de