Z Orthop Unfall 2010; 148(6): 622-624
DOI: 10.1055/s-0030-1270267
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

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Interview – Knorpelbestandteile futtern hilft nicht gegen Arthrose

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Publication Date:
15 December 2010 (online)

 

Erneut zeigt eine große Metaanalyse: Präparate wie Chondroitin oder Glucosamin kommen bei Gelenkproblemen über eine Placebowirkung nicht hinaus. Im Interview mit der ZFOU erklärt der Epidemiologe Peter Jüni von der Universität Bern, womit er diese Botschaft belegt. Und warum er dennoch kein Verbot für solche Substanzen fordert.

Prof. Peter Jüni (Jahrgang 1967) ist Leiter der Abteilung für Klinische Epidemiologie und Biostatistik im Institut für Sozial- und Präventionsmedizin der Universität Bern, außerdem Direktor der Clinical Trial Unit am Berner Universitätsklinikum. Der Arzt und Statistiker fahndet regelmäßig nach der Evidenz für Behandlungsmethoden v. a. bei kardiovaskulären und muskuloskelettalen Erkrankungen.

? Herr Prof. Jüni, ein Orthopäde, der seinem Patienten mit Arthrose im Kniegelenk zu Chondroitinsulfat-Präparaten rät, der ...?

... müsste den Patienten ehrlich darüber informieren, dass es im Moment keine Hinweise darauf gibt, dass dieses Präparat einen Nutzen hat, der über den Placeboeffekt hinausgeht.

? Wenn es keinen Nutzen oder, genauer, Zusatznutzen durch ein Medikament oder Verfahren gibt, muss der Arzt doch eigentlich abraten?

Das ist theoretisch gesehen, richtig. Wir haben aber bei Arthrosen in Knie- und Hüftgelenk leider überhaupt nur sehr wenige Interventionsmöglichkeiten. Das schafft dann regelmäßig die Situation, dass ein Arzt eingestehen müsste, dass er medikamentös nicht viel helfen kann. Zugleich gehen wir davon aus, dass diese Substanzen harmlos sind. Daher komme ich auf diese pragmatische Sicht. Für mich ist aber ganz klar, dass der Patient die Mittel selber zahlen muss, das kann keine Kassenleistung sein.

? Worauf stützen Sie Ihr Negativurteil bezüglich der Substanzen?

Unsere neueste Analyse dazu ist unlängst im BMJ erschienen (siehe links). In diese Metaanalyse haben wir jene 10 großen und methodisch tauglichen Studien eingeschleust, die wir in der veröffentlichten Literatur finden konnten.

Sie umfassen 3803 Patienten mit Knieoder Hüftarthrose, die entweder ein Placebo, Chondroitin, Glucosamin oder eine Kombination aus beiden letzteren bekamen. Das Ergebnis, auf einen Nenner gebracht: Mehr als einen Placeboeffekt bringen die Mittel nicht.

? Hersteller haben die Studien kritisiert. Einer der Einwände betrifft die Auswahl der Studien, warum sind es nur zehn?

Weil wir Mindestkriterien an die Qualität der Studien anlegen müssen. Die müssen u. a. mindestens 100 Patienten in jedem Arm umfassen.

? ... 100 Patienten, die ein Placebo und 100, die das Mittel, etwa Glucosaminsulfat bekommen ...

Richtig. Und die Studien mussten randomisiert sein. Da fallen viele ältere, meist kleinere Studien durch.

Die Hersteller beziehen sich bei all ihren Einwänden zumeist auf ältere Studien, die qualitativ schlecht sind und teilweise absolut unrealistisch große Effekte zeigen. Eine Studie Anfang der 90er-Jahre zeigt z. B. positive Effekte durch solche Präparate, die doppelt so groß sind, wie die zu erwartenden Effekte eines Gelenkersatzes. Das grenzt an ein medizinisches Wunder.

? Welche Effekte haben Sie gefunden?

Wichtig für uns waren v. a. zwei Parameter. Zum einen die mögliche Schmerzreduktion bei Einnahme der Präparate ...

? Und was haben Sie gefunden?

Irrelevant. Die Patienten werden dafür in den Studien gebeten, auf einer Analogskala von 0 – 10 cm die Schmerzintensität vor und nach Einnahme der Präparate anzugeben. Unter Glucosamin waren es 0,4 cm weniger als bei einem Placebo, unter Chondroitin 0,3 cm.

? Besser ein kleiner Effekt als gar keiner ...

Zum einen können wir den Effekt statistisch nicht sichern. Und selbst wenn, wäre so ein kleiner Effekt klinisch nicht relevant. Halten Sie sich die Analogskala einmal hypothetisch vor die Augen und gehen wir mal davon aus, dass Sie durchschnittliche Schmerzen haben, nehmen wir mal 5 cm. In der einen Gruppe liegt dann der Durchschnitt der Patienten mit Placebo bei 5 in der mit dem vermeintlichen Wirkstoff bei 4,7 cm. Dieser Unterschied ist in der Praxis irrelevant.

? Was schaffen echte Schmerzmedikamente?

Ein nichtsteroidales Antirheumatikum hat so was wie 1,2 – 1,5 cm im Vergleich zu Placebo.

? Was war der zweite Parameter?

Der Knorpelschutz, für den wir die Daten aus Röntgenuntersuchungen der Patienten bewertet haben. Fazit: Alle Studien zeigen keine statistisch gesicherten Effekte.

? Es ist nicht die erste Studie ihrer Art. Schon 2007 kamen Sie in einer ähnlichen Metaanalyse zu einem prinzipiell gleichlautenden Fazit (siehe auch links). Warum noch mal eine Studie?

Wir haben die Methode diesmal verfeinert, nutzen eine sog. Netzwerkanalyse. Damit konnten wir jetzt auch untersuchen, ob vielleicht die Zeit, die Dauer der Einnahme solcher Präparate eine Rolle spielen könnte. Hinweise haben wir allerdings auch dafür keine gefunden. Das Einzige, was wir finden, ist, dass Studien, die durch Hersteller gemacht werden, positivere Effekte für die Präparate zeigen, als solche, die unabhängig von ihnen gemacht werden.

? Sie haben in Ihrer letzten Analyse auch nur Studien gelten lassen, in denen Patienten mindestens 800 mg Chondroitin und 1500 g Glucosamin am Tag eingenommen haben. Eine Mindestdosierung?

Korrekt.

? Die Deutsche Arzneimittelbehörde BfArM erklärt hingegen, sie könne keine pharmakologisch wirksame Dosierung für die Substanzen ausmachen.

Eine Sicht, die ich teile. Hier waren es jene Dosierungen, die von Herstellern empfohlen werden. Aber auch mir ist nicht ganz klar, wie sie zustande kommen.

Das Problem ist, dass wir gar nicht wissen, wie viel der Substanzen nach Einnahme im Darm resorbiert wird, wie viel noch die Leberpassage übersteht, um auch wirklich im Gelenk anzukommen. Es ist unklar, welche Dosierung man braucht, um einen pharmakologischen Effekt zu erreichen – wenn es ihn geben sollte.

? Zugleich werden Chondroitin und Glucosamin in der Schweiz aber als Arzneimittel sogar von den Kassen bezahlt. Wurde die richtige Dosierung nicht bei der Zulassung untersucht?

Es gibt nur kleine pharmakologische Studien dazu, über die ich als Epidemiologe nicht kompetent urteilen kann.

? In Deutschland gibt es die Mittel nur als selber zu zahlende Nahrungsergänzungsmittel. Ich darf aus der Werbung einer x-beliebigen Online-Offerte vorlesen. Wer so etwas kauft, dem bietet sich:

Linderung von Gelenkschmerzen Verringerung von Entzündungen Regeneration des Bindegewebes natürliche Heilung von Osteoarthritis...

Nichts davon ist belegt. Aber in der Tat ist der Markt enorm. Allein Glucosamin-Präparate brachten es 2008 weltweit auf Umsätze von an die 2 Milliarden US-Dollar, in 5 Jahren legten die Verkaufszahlen um 60 % zu, Tendenz weiter steigend.

? Wer schützt den Laien vor falschen Heilsversprechen? Sollte man die Substanzen oder zumindest solche Aussagen vielleicht gleich verbieten?

Ohne Zweifel brauchen wir eine Bewusstseinsänderung bei der Werbung für die Mittel. Es bleibt zugleich aber das Dilemma der insgesamt weitgehend fehlenden Behandlungsmöglichkeiten. Wenn ein Patient wirklich überzeugt von diesen Mitteln ist, er das Mittel schon lange einnimmt, dann habe ich persönlich keine übergroße Abneigung dagegen, wenn er es weiter einnimmt, das Mittel aber auf jeden Fall selber bezahlt. Denn die Behandlungsalternativen, die wir haben, sind nicht überzeugend. Die Nichtsteroidalen Antirheumatika haben Probleme mit Nebenwirkungen. Und viele chirurgische Interventionen stehen ebenfalls auf schwacher Evidenzbasis. Wichtiger als Glucosamin & Co. bleibt da noch der Ratschlag vom Arzt, unbedingt aktiv zu bleiben, Sport zu treiben, und evtl. Übergewicht zu reduzieren.

? Wäre es nicht intelligenter, wenn man diese Substanzen gleich in die Gelenke injiziert? Dann würden sie direkt dort ankommen, wo sie auch wirklich landen sollen.

Aber de facto ist das eine möglicherweise riskante Geschichte, weil Sie dann mit einer Nadel das Gelenk eröffnen, und das die Möglichkeit schafft, dass Sie einen Infekt setzen. Bei der Hyaluronsäure, die injiziert wird, ist die Evidenzlage ähnlich schlecht wie bei Glucosamin und Chondroitin, weswegen sich das Infektionsrisiko, wenngleich klein, nicht rechtfertigen lässt.

? Haben Sie guten Kontakt zu Orthopäden?

Oh ja. Das Verhältnis ist durchaus o. k. Zumal orthopädische Chirurgen eine andere Ausrichtung haben – sie setzen oft eher auf eine chirurgische Lösung. Bei Rheumatologen oder Allgemeinmedizinern bin ich skeptischer, ob sich die Evidenz, die wir jetzt gezeigt haben, durchsetzen wird.

? Hat die Orthopädie überhaupt Arzneimittel zum Knorpelaufbau?

Nein. Ich bin ziemlich sicher, dass auch in Zukunft keine Studie zu den heute erhältlichen Präparaten irgendwelche klinisch relevanten positiven Effekte finden wird. Dennoch mögen weitere Studien zu dieser Frage psychologisch wichtig sein, gerade um die Ärzte zu überzeugen. Derzeit läuft eine weitere, die LEGS, die die Einnahme von Chondroitin und Glucosamin gegen Placebo testet. Ergebnisse kommen gegen 2011.

? Bleiben die Mittel in der Schweiz tatsächlich weiter Kassenleistung?

Das ist ganz schwierig aufgrund unserer Legislation. Damit sie es nicht mehr sind, wäre es nötig, die Mittel von der sog. Spezialitätenliste zu nehmen. Und dafür müssen die Schweizer Behörden laut Gesetz belegen, dass Präparate nicht wirken. Und das ist wissenschaftstheoretisch gar nicht möglich. Auch unsere Studie zeigt nur, dass sie höchstwahrscheinlich nicht wirken. Es ist aber wissenschaftlich gesehen unmöglich, formal zu beweisen, dass etwas nicht wirkt. Jede Gesetzgebung, die eine Beweislast fordert, dass etwas nicht wirkt, ist deswegen eine absurde Gesetzgebung.

Interview: BE

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