Geburtshilfe Frauenheilkd 2011; 71(7): R64-R75
DOI: 10.1055/s-0030-1271174
GebFra-Weiterbildung | Refresher

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Einführung in die Sexualmedizin

Teil 2: Weibliche SexualstörungenA. Kottmel1 , K. V. Ruether2 , J. Bitzer2
  • 1Kantonsspital Nidwalden, Abt. für Gynäkologie und Geburtshilfe, Schweiz
  • 2Frauenklinik Universitätsspital Basel, Schweiz
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Publication Date:
27 July 2011 (online)

Einleitung und historischer Überblick

Sexualmedizinische Probleme sind ein häufiges Anliegen in der gynäkologischen Sprechstunde. In einer Studie von Laumann et al. berichten 25–63 % aller 18–59-jährigen Frauen über sexuelle Funktionsstörungen ([Tab. 1]) [1].

Tab. 1 Sexuelle Funktionsstörungen der Frau aus 2, 3. sexuelle Funktionsstörungen bei der Frau nach ICD-10-Codierung Prävalenz Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen (F 52.0) 17–55 % sexuelle Aversion, sexuelles Vermeiden (F 52.1) ∼ 8 % Versagen genitaler Reaktionen/Erregung (F 52.2) 8–15 % Orgasmusstörung (F 52.3) 16–25 % nicht organischer Vaginismus (F 52.5) ∼ 10 % nicht organische Dyspareunie (F 52.6) 12–27 % gesteigertes sexuelles Verlangen (F 52.7) ?

In diesem 2. Teil unserer Einführung zum Thema Sexualmedizin liegt der Schwerpunkt bei der Diagnostik und Therapie der weiblichen Sexualfunktionsstörungen. Die Sexualanamnese und Sexualstörungen des Mannes wurden im 1. Teil dargestellt (s. Einführung in die Sexualmedizin Teil 1).

Zunehmend werden sexuelle Probleme von Frauen als Problem mit Krankheitswert wahrgenommen.

In den letzten Jahrzehnten werden sexuelle Schwierigkeiten zunehmend ebenfalls von Frauen als Problem mit Krankheitswert wahrgenommen und damit in der gynäkologischen Sprechstunde als Anliegen vorgebracht.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde „Erregung“ bei Frauen als verwerflich bis krankhaft betrachtet. Masturbation wurde als Ursache für psychische Krankheiten genannt und mit einer operativen Entfernung der Klitoris behandelt [4].

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die weibliche Sexualität als verwerflich oder krankhaft betrachtet.

Erst langsam wurde diese pathologisierende Betrachtung der weiblichen Sexualität modifiziert ([Tab. 2]).

Tab. 2 Historischer Überblick. 19. Jahrhundert Masturbation wird mit Klitoriektomie behandelt. 1948–1953 Kinsey interviewt mehrere Tausend Männer und Frauen über deren Sexualität. 1960 Die 1. „Pille“ kommt auf den Markt. 1960er Die Klitoris wird zunehmend als wichtigstes „Orgasmusorgan“ der Frau beschrieben. 1967 Masters und Johnson beobachten über tausend Orgasmen unter Laborbedingungen und entwickeln ein verhaltenstherapeutisches Modell für Sexualfunktionsstörungen. 1990 Basson entwickelt zirkuläres Modell des sexuellen Erregungszyklus. 1998 Viagra® kommt auf den Markt.

In den 1950er-Jahren entwickelten Masters und Johnson ihr lineares Modell der sexuellen Reaktion (s. Teil 1 des Artikels). Viele Jahre war der daraus hervorgegangene verhaltenstherapeutische Therapieansatz die wichtigste Behandlungsmöglichkeit bei sexualmedizinischen Problemen. Erst im Jahr 1990 kommt es zu einer wichtigen Weiterentwicklung, als Rosemary Basson ein zirkuläres Modell des sexuellen Erregungszyklus beschreibt ([Abb. 1]) [5]. Vor allem für Frauen scheint dieses Modell die sexuelle Reaktion besser zu erklären.

Das Modell von R. Basson geht davon aus, dass sexuelles Verlangen auch während der sexuellen Interaktion entstehen kann. Als Motivator wirkt der Wunsch nach Nähe.

Patientinnen erwarten bei sexuellen Schwierigkeiten Hilfe von ihren Ärztinnen. Diese sind nicht immer offen, sexualmedizinische Anliegen in gewünschtem Ausmaß ernst zu nehmen.

So berichten 43,7 % der befragten Gynäkologen, das Thema Sexualität nie bzw. bei unter 20 % ihrer Patientinnen anzusprechen (eigene, noch nicht publizierte Daten). Hauptgründe hierfür sind Zeitmangel sowie Angst, die Intimsphäre der Patienten zu verletzen. Unsere Patienten sehen das Fragen nach Sexualität allerdings als Teil unserer Aufgabe an: 90 % der Patienten würden sich Fragen zum Thema Sexualität von ihrem Arzt wünschen [6].

Literatur

  • 1 Laumann E O, Paik A, Rosen R C. Sexual dysfunction in the United States, prevalence and predictors.  J Am Med Assoc. 1999;  6 537-544
  • 2 Lewis R W, Fugl-Meyer K S, Corona G et al. Definitions/epidemiology/risk factors for sexual dysfunction.  J Sex Med. 2010;  7 1598-1607
  • 3 Dennerstein L, Koochaki P, Barton I et al. Hypoactive sexual desire disorder in menopausal women: a survey of Western European women.  J Sex Med. 2006;  3 212-222
  • 4 Studd J, Schwenkhagen A. The historical response to female sexuality.  Maturitas. 2009;  63 107-111
  • 5 Basson R, Leiblum S, Brotto L et al. Revised definitions of women's sexual dysfunction.  J Sex Med. 2004;  1 40-48
  • 6 Meystre-Agustoni G, Jeannin A, de Heller K et al. Talking about sexuality with the physician: are patients receiving what they wish?.  Swiss Med Wkly. 2011;  141 w13178 DOI: 10.4414/smw.2011.13178
  • 7 Reamy K. Sexual counseling for the nontherapist.  Clin Obstet Gynecol. 1984;  27 781-788
  • 8 Bitzer J, Alder J. Sexualmedizin für Gynäkologen.  Der Gynäkologe. 2008;  1 49-70
  • 9 Gromus B. Sexualstörungen der Frau. Göttingen: Hogrefe; 2002
  • 10 Clement U. Guter Sex trotz Liebe. Wege aus der verkehrsberuhigten Zone. Berlin: Ullstein; 2006
  • 11 Gelfand M M. Sexuality among older women.  J Womens Health Gend Based Med. 2000;  1 15-20
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  • 13 Laan E, van Lunsen R H, Everaerd W. The effects of tibolone on vaginal blood flow, sexual desire and arousability in postmenopausal women.  Climacteric. 2001;  4 28-41
  • 14 Laan E, van Driel E M, van Lunsen R H. Genital responsiveness in healthy women with and without sexual arousal disorder.  J Sex Med. 2008;  5 1424-1435
  • 15 Fugl-Meyer K S, Oberg K, Lundberg P O et al. On orgasm, sexual techniques, and erotic perceptions in 18- to 74-year-old Swedish women.  J Sex Med. 2006;  3 56-68
  • 16 Catania L, Abdulcadir O, Puppo V et al. Pleasure and orgasm in women with female genital mutilation/cutting (FGM/C).  J Sex Med. 2007;  4 1666-1678
  • 17 Clayton A, Keller A, McGarvey E L. Burden of phase-specific sexual dysfunction with SSRIs.  J Affect Disord. 2006;  91 27-32
  • 18 Zürcher Institut für klinische Sexologie & Sexualtherapie .Das Konzept des Sexocorporel. Im Internet: http://www.ziss.ch/sexocorporel/Sexocorporel-Grundlagen.pdf Stand: 10.3.2011
  • 19 Goldmeier D, Mears A, Hiller J BASHH Special Interest Group for Sexual Dysfunction et al. Persistent genital arousal disorder: a review of the literature and recommendations for management.  Int J STD AIDS. 2009;  20 373-377

Dr. Andrea Kottmel

Kantonsspital Nidwalden

Ennetmooserstraße 16/626

6370 Stans

Schweiz

Email: andrea.kottmel@ksnw.ch