Via medici 2011; 16(1): 3
DOI: 10.1055/s-0031-1271869
editorial

Das pralle Leben

Dieter Schmid
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Publication Date:
24 January 2011 (online)

Kleines Rätsel zur Begrüßung: Was ist das invasivste diagnostische Verfahren, das die Medizin zu bieten hat? Ein Herzkatheter? Die ERCP mit Schlitzung der Papilla vateri? Die Hirnbiopsie bei einem unklaren neurologischen Leiden? Völlig falsch! Ich spreche vom guten alten Hausbesuch. Mit dieser Maßnahme dringen Sie zwar nicht in den Körper des Patienten ein, dafür aber in sein Umfeld, seine Privatsphäre, seine Lebenswelt – kurz: das, was seine eigentliche Person ausmacht. Hier müssen Sie Risikofaktoren z. B. nicht erfragen, Sie können sie – zum Teil – mit allen Sinnen erkennen. Nun verliert ausgerechnet dieses zentrale ärztliche Instrument zusehends an Bedeutung. Die Zahl häuslicher Visiten ist in den Jahren nach 1996 um über 40% zurückgegangen [1]. Die Gründe hierfür sind vielseitig. Die miese Bezahlung für diese Dienstleistung mag eine Rolle spielen. Anderen ist die ganze Aktion „Besuch” schlicht zu aufwendig: hinfahren, Treppenhaus erklimmen, Schwätzchen halten, sich Probleme erzählen lassen … Bleibt da überhaupt noch Zeit für Medizin? Die Hausärzte, mit denen wir für unseren Artikel „Weiterbildung Allgemeinmedizin” gesprochen haben, haben da eine klare Meinung: Das IST Medizin!

Hierzulande mögen Hausbesuche eine oft unterschätzte Stütze des Gesundheitssystems sein. Woanders wäre ohne sie überhaupt keine Medizin möglich. Im Artikel „Im Schatten des Waldes” erzählt der deutsche Mediziner Daniel Peter von seiner Arbeit als „Flussarzt” bei den Urarina-Indianern am Rio Chambira im peruanischen Regenwald. Macht er sich auf einen „Hausbesuch”, ist er in seinem kleinen Boot Tage unterwegs. Den Weg zu seinen Patienten muss er sich mitunter mit Machete und Motorsäge freikämpfen. Die Urarina sind ein winziges Volk von 3.300 Seelen. Ohne die Visiten der europäischen Ärzte, die sie gegen von Holzfällern und Ölarbeitern eingeschleppte Infektionserreger impfen und eine Minimalversorgung gewährleisten, könnten sie nicht überleben.

Noch vor 150 Jahren war es hierzulande nicht anders. Da es noch keine guten Kliniken gab, wurden die meisten schwer kranken Patienten zu Hause behandelt. Bei Wind und Wetter eilten die Ärzte von Haus zu Haus. Dass sich dieser Aufwand reduziert hat, ist für die Mediziner natürlich ein Gewinn. Auf der anderen Seite: Nicht nur Patienten profitieren von Hausbesuchen. Auch Ärzten tut es gut, wenn sie ab und an die Weißkittelbrille abstreifen – und bei Hausbesuchen dem „prallen Leben” ins Gesicht blicken: Sei es in Form der Blümchentapete der 90-jährigen Diabetikerin oder in Gestalt des Unrats in der Wohnung des 30-jährigen Messies. Solche Einblicke schützen sehr effektiv davor, sich zu sehr in einen Kokon aus Diagnose, Verordnungen und Prognose einzuspinnen …

In diesem Sinne: Viel Spaß mit dem aktuellen Hausbesuch Ihrer Via medici wünscht Ihnen Ihr

Dr. med. Dieter Schmid, Redaktionsleitung

[1] H.-P. Romberg. „Hausbesuch – ungeliebt, aber wichtig (…)” Der Hausarzt 2005; 15: 42–47

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