Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(4): 223
DOI: 10.1055/s-0031-1271901
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Gehörlose Eltern und CI-Kinder

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Publication Date:
13 January 2011 (online)

 

Die CI-Versorgung von gehörlosen Kindern gehörloser Eltern ist in den letzten Jahren zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden. Lange Zeit hielt man es für ausgeschlossen, dass gehörlose Eltern eine CI-Versorgung für ihr(e) Kind(er) in Anspruch nehmen würden. Inzwischen haben sich nicht wenige gehörlose Eltern für diesen Weg entschieden. Kollege Leist, Sie sind einer der wenigen deutschsprachigen Ethiker und Philosophen, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, daher meine Fragen an Sie:

? Wie schätzen Sie die CI-Versorgung von gehörlosen Kindern gehörloser Eltern aus ethischer Sicht ein?

Mit wenigen Sätzen ist das schwer zu beantworten. Am wichtigsten scheint mir, dass man der Schwierigkeit gerecht werden muss, dass die gehörlosen Eltern vor einer Entscheidung stehen zu sehen, deren sinnliche Qualität – eine Annäherung an das lautliche Hören – sie selbst nicht sinnlich beurteilen können. Diese Entscheidung ist vielleicht mit einer Entscheidung zu vergleichen, in der man einen Ehepartner wählen soll, ohne ihn vorher gesehen zu haben, also nur auf der Grundlage von nicht-sinnlicher Information. Wenn man das entrüstet ablehnt, was die meisten von uns tun, kann man sich die Schwierigkeit der gehörlosen Eltern vorstellen.

? Welchen Gewinn kann eine CI-Versorgung diesen Familien bringen?

Die CI-Versorgung kann nach meinem Eindruck vorteilhaft sein, wenn sie die Kinder nicht gleichzeitig von ihren gehörlosen Eltern entfremdet, was voraussetzt, dass sie auch die Gebärdensprache benutzen. Wenn eine 2-sprachige Sozialisation erfolgreich ist, werden viele Brücken zwischen der Gehörlosen- und der Hörenden-Existenz geschlagen, solche der Kultur, der Kommunikation und der sozialen Integration.

? Wo liegen mögliche Probleme?

Das ist eine empirische Frage, die ich gerne Pädagogen wie Ihnen überlassen würde.

? Die Diskussion "CI und Gehörlosengemeinschaft" wurde und wird intensiv geführt. Vermuten Sie, dass das CI die Gehörlosengemeinschaft und die Gebärdensprache gefährdet?

Ich kann mir denken, dass die Gehörlosengemeinschaft absolut gefährdet ist und in absehbarer Zeit als eine Gemeinschaft nicht mehr bestehen wird. Eine solche Gemeinschaft ist aber kein eigenständiges Gut für sich, das man nicht auf die Interessen der Teilnehmer zurückführen könnte. Die Interessen derjenigen, die neu in diese Gemeinschaft eintreten oder eben nicht eintreten, stehen im Vordergrund. Das problematische Gefühl, das auch einen Nichtangehörigen der Gemeinschaft bei diesem Vorgang überfällt, ist das einer unfreiwilligen Anpassung der Schwächeren an die Stärkeren. Wenn man die zahlenmäßig überlegenen Hörenden (einschließlich ihrer ökonomischen Überlegenheit) als die "Stärkeren" sieht, dann trifft diese Beschreibung durchaus zu. Vorteilhaft an der sich gerade vollziehenden Entwicklung ist aber, dass die Kinder durch das CI nicht benachteiligt werden, vorausgesetzt, die Entwicklung erfüllt die Hoffnung auf eine bilinguale Entwicklung und die Gehörlosen ohne CI werden durch die Entwicklung nicht noch stärker ausgegrenzt als sie es sowieso schon sind.

? Welche Fragen werden sich aus Ihrer Sicht als nächste stellen? Welche gilt es möglichst rasch zu beantworten?

Ich finde, die sehr schwache sozialwissenschaftliche und entwicklungspsychologische Erforschung der Gehörlosigkeit gelinde gesagt einen Skandal. Es gibt zumindest nach meinem Wissen kein verfügbares statistisches Material über die soziale Lage der Gehörlosen in Deutschland. Wie es repräsentativ gesehen mit ihrem Wohlstand und ihrer sozialen Integration bestellt ist, weiß man nicht solide. Und weiter herrscht große Unklarheit über die Form der Gehörlosenintelligenz. Ich könnte mir denken, dass das geringe Interesse in Deutschland, die Gehörlosenintelligenz zu erforschen, auch mit dem als solchenpositiven politischen Motiv gekoppelt war und ist, diese Intelligenz von der sprechenden Intelligenz nicht unterscheiden und damit möglicherweise diskriminieren zu wollen. Gut gemeint – aber wissenschaftlich unfruchtbar. Auf diese Weise kommt man nicht heraus aus der, wie ich beobachte, unergiebigen Unklarheit, ob der typische Lernrückstand gehörloser Kinder auf ihrer speziellen Intelligenz und einer dazu ungeeigneten Pädagogik, oder auf der nicht ersetzbaren Intelligenzfunktion des Sprechens und lautlichen Hörens besteht. Es ist mir völlig unverständlich, warum diese Frage nicht radikal genug erforscht wird. Wenn und wo diese Forschung betrieben wird, stößt sie natürlich sofort auf moralische Schwierigkeiten, sodass sicher noch viele Jahre damit einhergehen werden, über die Bedingungen und möglichen Folgen dieser Forschung zu reden.

Das Interview führte Prof. Dr. Annette Leonhardt, München

Literatur

  • 01 Leist A Autonom gehörlos sein. In: Leonhardt A, Vogel A, (Hrsg.) Gehörlose Eltern und CI-Kinder. Heidelberg: Median; 2009: 78-98