PPH 2011; 17(2): 59-62
DOI: 10.1055/s-0031-1275371
PPH|Szene
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Auf ein Wort mit …

Michael Schulz
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Publication Date:
24 March 2011 (online)

Uwe Braamt, Pflegedirektor der LWL-Klinik in Herten, zum Thema der systematischen Einschätzung des Suzidrisikos

Michael Schulz: Hallo Uwe. In Eurer Klinik habt ihr viel Erfahrung mit der systematischen Einschätzung des Suzidrisikos gesammelt. Wie bist du auf das Thema gekommen? Uwe Braamt: Das ist aus einer Leidenssituation entstanden. Unsere Klinik hier in Herten besteht seit 25 Jahren und ist damit die jüngste im Kreise der Kliniken des Landschaftsverband Westfalen Lippe. Was uns in den letzten 10 bis 15 Jahren doch immer wieder sehr beängstigt und verunsichert hat, war die meines Erachtens doch enorm hohe Suizidrate. Michael Schulz: War die im Vergleich zu anderen Kliniken höher? Uwe Braamt: Ja, teilweise war sie höher. Wir haben aber auch bemerkt, dass jeder Suizid eine Reihe von Effekten nach sich gezogen hat. Zum Beispiel sind solche Ereignisse in der Regel sehr belastend für unsere Mitarbeiter. Nicht umsonst erforscht die Gemeinde und Unfallversicherung - GUV intensiv die Folgen von Suiziden für die Mitarbeiter in Psychiatrischen Kliniken. Michael Schulz: Welchen Weg bist du dann gegangen? Uwe Braamt: Durch diese Leidenssituation hatte ich eine besondere Sensibilität für dieses Thema. Im Jahr 2005 habe ich, unterstützt durch die Robert-Bosch-Stiftung, eine Hospitation an der Klinik der Universitären Dienste Bern gemacht und bin dort mit Bernd Kozel und Manuela Grieser zusammengetroffen. Die beiden hatten sich zu jener Zeit intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Das war eher ein Nebeneffekt. Mein Hauptinteresse bei dieser Hospitation galt der dortigen Umsetzung der Bezugspflege. Aber so habe ich dann den NGASR kennen gelernt. Michael Schulz: Was bedeutet NGASR? Uwe Braamt: Nurses Global Assessment of Suicide Risk. Dieses Instrument wurde von John Cutcliff und Phil Barker entwickelt und ist mittlerweile im angelsächsischen Raum weit verbreitet. Manuela Grieser und Bernd Kozel haben der deutschen Übersetzung noch das Item 16 hinzugefügt, welches erhebt, ob und wie viele stationäre Aufenthalte in den vergangenen 24 Monaten stattgefunden haben. Michael Schulz: Wie hat dann die Implementierung in die Hertener Klinik stattgefunden? Uwe Braamt: In der Betriebsleitung wurde entschieden, dass bei allen Patienten, die hier aufgenommen werden, das Instrument zu Beginn einmal im Sinne eines Screenings zur Anwendung kommt. Überzeugt hatte uns die gute Anwendbarkeit und der überschaubare Zeitbedarf, der für eine solche Erhebung notwendig ist, um zur Suizidalität Informationen zu gewinnen. Auch bei ungeschulten Personen haben wir festgestellt, dass die Einschätzung maximal 10 bis 15 Minuten dauert. Routinierte Mitarbeiter schaffen das häufig in 5 bis 7 Minuten. Unser Ziel war es auch, dass die Mitarbeiter den Aspekt der Suizidalität nicht aus dem Blick verlieren. Von daher wurde auch festgelegt, dass im Falle einer Verlegung das Instrument erneut zur Anwendung kommt (Abb. 1). Michael Schulz: Hat sich durch die Anwendung des Instrumentes und die damit einhergehende deutliche fachliche Positionierung der Verantwortungsbereich der Pflege verändert? Uwe Braamt: Unbedingt. Die Pflege bezieht hier eine Position zur Einschätzung. Die Einführung eines solchen Instrumentes gelingt nur dann, wenn man sich im Overhead einer solchen Klinik berufsgruppenübergreifend einig ist. Da Suizidalität natürlich nicht nur ein pflegerisches Thema ist, sieht der NGASR bei einem hohen Score eine zusätzliche interdisziplinäre Einschätzung vor. Gerade im interdisziplinären Austausch bewähren sich dann die klaren Kriterien des Instrumentes, die für alle nachvollziehbar sind und so wird eine bestimmte Einschätzung nicht vorschnell auf individuelle persönliche Eigenschaften der Pflegekraft zurückgeführt. Hier führt das Instrument eindeutig zur Versachlichung der Diskussion. Die Pflegenden fühlen sich durch dieses Vorgehen deutlich stärker mitverantwortlich. Michael Schulz: Jetzt habt Ihr einen zweiten Bogen eingeführt. Welcher ist das und was hat euch dazu bewogen? Uwe Braamt: Im Rahmen der Erhebung des NGASR ist es – nicht unbedingt überraschend – immer wieder vorgekommen, dass Patienten hohe bis sehr hohe Scorewerte erreicht haben, also deutlich suizidal waren. Hier stellt sich nun die Frage: was machen wir mit Patienten, die akut suizidal sind? Instrumente sind aus meiner Sicht dabei auch Hilfsmittel, um mit dem Patienten über dieses schwere Thema ins Gespräch zu kommen und einen Kontakt herzustellen. Hier konnten wir abermals von den Schweizer Kollegen profitieren. Auf einem Dreiländerkongress hat Bernd Kozel das Instrument SSF 2 (Suicide Status Form) von David A. Jobes (2006) vorgestellt (Abb. 2). Dabei handelt es sich nicht um einen Score sondern vielmehr um einen Gesprächsleitfaden. Der Autor des Bogens hat sich mit der Frage beschäftigt, was akut suizidale Menschen erleben. Er hat Dimensionen entwickelt, die im Rahmen des Gesprächskontaktes durch Pflegende sinnvolle Bereiche abdecken. So geht es z. B. um die Frage: „Können Sie ihren psychischen Schmerz beschreiben?” Diese Frage wirkt zunächst relativ schwierig. Würde mich jemand fragen, was psychischer Schmerz ist, so würde mir dazu relativ wenig einfallen. Wenn ich aber als Pflegender mir die Mühe mache, vergleichende Situationen herzustellen, z. B. den Tod des Großvaters oder den ersten schweren Liebeskummer, dann sind das Dimensionen, die jeder gut verstehen kann. Diesen Aspekt des In-den-Kontakt-tretens finde ich sehr anspruchsvoll und habe ihn zu Beginn auch unterschätzt. Heute bin ich sehr dankbar, dass sich die Pflegenden in unserem Haus auf diesen schwierigen Weg eingelassen haben und mit Patienten immer wieder über jene schwierigen Dinge reden, die im Bereich der akuten Suizidalität bedeutsam sind. Sie besprechen mit dem Patienten z. B., was Gründe für das Leben, aber auch was es für Gründe gegen das Leben gibt und lassen den Patienten eine Priorisierung vornehmen. Michael Schulz: Hat sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit durch die Implementierung dieser Instrumente verändert? Uwe Braamt: Unbedingt. Seit wir die Instrumente eingeführt haben, haben wir gewissermaßen eine schnellere Sprache zu dem Thema. Wir können Dinge, die mit dem Thema zusammenhängen, besser benennen und haben eher eine Vorstellung davon, was Patienten in diesen Situationen bewegt. Das ändert natürlich nichts daran, dass wir immer noch sehr betroffen sind, wenn sich Menschen in unserer Obhut und trotz unserer Interventionen sich das Leben nehmen. Aber auch in solchen Situationen sind wir nicht mehr so sprachlos. Ein „erfolgreicher” Suizid hat uns in der Vergangenheit oft sprachlos gemacht. Heute helfen uns die Instrumente dabei zu erkennen, dass das, was uns an fachlichen Interventionen zur Verfügung stand, auch versucht wurde. Ob das immer ausreichend war, ist dann häufig eine andere Frage, aber das, was zur Verfügung stand, kam zur Anwendung. Michael Schulz: Gibt es Erkenntnisse dazu, ob die Einführung der Instrumente eine Reduzierung suizidaler Handlungen zur Folge gehabt hat? Uwe Braamt: Das lässt sich leider nicht nachweisen. Wir haben mal Jahre vor und nach der Einführung der Instrumente verglichen. Seit der Implementierung 2005 und dem vollständigen Rollout 2006 haben wir Jahre gehabt, in denen wir maximal einen, oft auch keinen Suizid in unserer Klinik zu beklagen hatte. Inwieweit das tatsächlich auf die Instrumente zurückzuführen ist, ist schwer zu sagen. Das subjektive Gefühl von mir, aber auch vom ärztlichen Direktor ist, dass dadurch, dass das Thema im Fokus ist und darüber in der Klinik gesprochen wird, die Zahlen eher rückläufig sind. Gerade im letzten Jahr gab es in diesem Zusammenhang aber wieder zwei bis drei schwere Zwischenfälle trotz dieser Instrumente. Eine Garantie, dass sich durch die Instrumente die Zahlen verbessern, gibt es also nicht. Michael Schulz: Wer wurde geschult? Uwe Braamt: Alle Mitarbeiter des Pflegedienstes wurden geschult, damit alle auch dieselben Begrifflichkeiten und dazugehörigen Definitionen verwenden. So bezieht sich der Begriff „Hoffnungslosigkeit” nicht auf die Situationseinschätzung durch die Pflegenden sondern die Einschätzung der Betroffenen. Eine gemeinsame Vorstellung der Items ist in diesem Zusammenhang unabdingbar. Michael Schulz: Wie wurde die Implementierung von den Pflegenden bewertet? Uwe Braamt: Die Einführung von NGASR hat bei den Pflegenden viele Fragen aufgeworfen und zu Verunsicherung geführt. Die Kernfrage lautete: „Was passiert, wenn ich einen Patient als „nicht gefährdet” einstufe und der Patient bringt sich dann um? Werde ich dann für meine falsche Einschätzung haftbar gemacht?” Aus Sicht der Betriebsleitung war diese Verunsicherung verstehbar, tatsächlich ist die juristische Situation aber auch ohne Score nicht wirklich eine andere. Der Richter würde immer fragen, ob unter fachlichen Gesichtspunkten richtig gehandelt und alles Notwendige unternommen wurde. Meines Erachtens haben sich die Widerstände gegen die Einführung von NGASR nicht lange gehalten. Natürlich gab es Äußerungen wie „schon wieder ein neuer Bogen, schon wieder mehr Papier”; aber das ebbte relativ schnell ab. Heute kommen die Instrumente mit einer großen Selbstverständlichkeit zur Anwendung. Michael Schulz: Was muss heute in der Klinik getan werden, um das Thema am Leben zu halten? Uwe Braamt: Die Erhebungen werden – wie viele andere Leistungskomplexe der Pflege – kontinuierlich erfasst und zentral ausgewertet. Die Stationen bekommen so eine Rückmeldung darüber, bei welchen Patienten welches Instrument zur Anwendung kam. Michael Schulz: Hat die Einführung der Instrumente einen Einfluss auf die Form der Interventionen im Hinblick Restriktivität bzw. das Gegenteil davon gehabt? Uwe Braamt: Natürlich gibt es auch heute noch Situationen, die aus unserer Sicht eine eher restriktive Vorgehensweise, wie z. B. die Verlegung zur Krisenintervention auf eine geschlossene Station inklusive Überwachung rechtfertigen. Insgesamt stellen wir aber fest, dass die Pflegenden – bewusst oder unbewusst – bei den zu wählenden Interventionen um Formen der Kontakt- und Beziehungsgestaltung geht. Aus meiner Sicht geht es in der akuten Suizidalität auch weniger darum, immer was zu „machen” oder eine Lösung zu haben. Hier geht es aus meiner Sicht vielmehr darum, dabei zu sein und die Bereitschaft zu haben, mit jemandem zusammen die Krisensituation auszuhalten. Michael Schulz: PPH sagt Danke für das Gespräch!

Abb. 1 NGASR (Nurses Global Assessment of Suicide Risk).

Abb. 2 Suicide Status Form-II (SSF II) German Version II.

Literatur

  • 01 Abderhalden C, Grieser M, Kozel B et al.. Wie kann der pflegerische Beitrag zur Einschätzung der Suizidalität systematisiert werden?.  Psych Pflege. 2005;  11 160-164
  • 02 Jobes D A. Managing suicidal risk. A collaborative approach. Guilford Press; New York; 2006
  • 03 Kozel B, Michel K, Abderhalden C. Strukturierte Einschätzung der Suizidalität gemeinsam mit den PatientInnen: Erste Erfahrungen aus einem Praxisentwicklungsprojekt. In: Abderhalden, et al., (Hrsg.) Psychiatrische Pflege, psychische Gesundheit und Recovery. Vorträge und Posterpräsentationen 5. Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie Bern. IBICURA; Unterostendorf; 2008: 245-251
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