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DOI: 10.1055/s-0031-1276842
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Muskelzuckungen mit Verwirrung
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
05. August 2011 (online)

Der Fall
Unter dem Stichwort „Plötzliche Bewusstlosigkeit” wird der Notarzt am frühen Vormittag in eine helle Mietwohnung gerufen. Alarmiert hatte einer der beiden Bewohner, weil sein Freund seit einigen Tagen zunehmend apathisch geworden sei und sich jetzt gar nicht mehr erwecken ließe. Wichtig sei zu wissen, dass der Freund mit HIV infiziert und vor 5 Jahren wegen Blutkrebs behandelt worden sei.
Die orientierende Untersuchung des auf seinem Bett liegenden Patienten ergab geschlossene Augen, Kopfwendung auf Ansprache, beiderseits Händedrücken auf Aufforderung, jedoch keine verbalen Äußerungen. Während der Untersuchung wurden wiederholt myoklonische Zuckungen beider Beine beobachtet. Beide Pupillen waren weit mit träger Lichtreaktion. Meningismus bestand nicht. Blutdruck (115 / 75), Herzfrequenz (80) und pulsoxymetrische Sättigung lagen im normalen Bereich. Das Thermometer zeigte axillär 38,5 °C. Der Blutzucker lag mit 90 mg / dl im Normalbereich. Die physikalische Untersuchung von Herz, Lungen und Abdomen ergab keine auffälligen Ergebnisse. Im EKG fand sich ein Sinusrhythmus ohne Repolarisationsstörungen.
Der Freund berichtete auf Befragen zum Verlauf der letzten Tage von zeitweiliger Verwirrtheit, Gedächtnislücken, von torkelndem Gang und von Muskelschmerzen wohl beider Beine. Die Untersuchung der herbeigeschafften Medikamentenbehältnisse ergab Vorräte von Valoron N®, Truvada®, Reyataz®, Norvir®, Trevilor®retard 150, Tavor® 1 mg und Cipralex® 20 Filmtabletten. Genaue Dosierungen wusste der Freund nicht zu berichten.
Unter dem Verdacht einer Medikamentenwechselwirkung oder -überdosierung wurde eine Venenverweilkanüle gelegt und der Patient mit dem RTW in ein nahegelegenes Krankenhaus eingewiesen.
Die dortige, klinische Untersuchung ergab ein ähnliches Bild wie an der Einsatzstelle. Ein Nativ-cCT zeigte keine pathologischen Befunde. Überraschend waren die Ergebnisse der Laboruntersuchungen mit einer Kreatinkinase von 24 400 U / l (Ref. < 170), LDH 757 U / l (Ref. < 248) und Kreatinin 2,1 mg / dl (Ref. < 1,2). Das CRP war mit 2,3 mg / dl (Ref. < 0,5) gering erhöht und die Leukozyten lagen mit 9,9 / nl im oberen Normalbereich. Die ALT war auf 96 U / l (Ref. < 45) gering und die AST mit 324 U / l (Ref. < 50) wesentlich deutlicher erhöht. Die wegen der Vigilanzminderung untersuchte Konzentration von Venlafaxin (4200 ng / ml) lag 10-fach oberhalb des üblichen therapeutischen Bereiches, jene von Lorazepam (390 ng / ml) lag 30-fach und Escitalopram (260 ng / ml) immer noch etwa 10-fach darüber.
Die Vorgeschichte mit Muskelschmerzen, torkelndem Gang, Verwirrtheit, Vigilanzminderung und Mydriasis, die laborchemisch gesehene Rhabdomyolyse mit beginnendem akutem Nierenversagen und die belegte Einnahme von serotoninergen Pharmaka ließ ein Serotoninsyndrom vermuten. Die Therapie erfolgte durch Weglassen obiger Pharmaka sowie erhöhtem Flüssigkeitsdurchsatz von 6–8 l / d unter intensivmedizinischer Beobachtung. Etwa 12 Stunden nach Beginn dieser Maßnahmen erwachte der Patient und forderte, ihm Lorazepam wegen seines ständig bestehenden Tinnitus zu geben.
In den nachfolgenden 2 Tagen kam es zum vollständigen Rückgang der anfänglichen Symptomatik. Auch laborchemisch fielen Kreatinkinase und Kreatinin deutlich. Ein dialysepflichtiges Nierenversagen entwickelte sich glücklicherweise nicht. Zur erneuten Einstellung auf seine antiretrovirale Medikation wurde der Patient in die infektiologische Klinik verlegt, von wo er sich jedoch nach einem psychiatrischen Gespräch gegen ärztlichen Rat entließ.
Literatur
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Priv.-Doz. Dr. Frank Martens
Charité, Campus Virchow Klinikum
Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
eMail: frank.martens@charite.de